Ein Waldfest in Schulzendorf, das allen Teilnehmern in Erinnerung blieb

Schulzendorf? Wann bin ich dort wohl zuletzt gewesen? Dies mag der eine oder andere Leser dieser Zeilen sich fragen. Seit dem Bau der Bundesfernstraße und der Sperrung der Ruppiner Chaussee für den Durchgangsverkehr ist es hier ruhig geworden. Auch die traditionellen Ziele von Ausflüglern, die einstigen Gaststätten „Sommerlust“ und „Lindenhof“ mit Getränkeausschank Sommerfestund Sitzmöglichkeiten gegenüberliegend an der anderen Straßenseite, am Waldrand, gibt es nicht mehr. Doch nicht nur in den 1950er Jahren kehrten hier an schönen Tagen unzählige Besucher ein. Bereits im 19. Jahrhundert zog es sonntags trotz der Entfernung von über 1 ½ Meilen ab Oranienburger Tor viele Berliner nach Schulzendorf. So ist überliefert, dass im Juni 1857 der Berliner Domchor ein Gesangfest im Grünen veranstaltete, das tausende (!) Berliner bei gutem Wetter erfreute. Die Chaussee nach Tegel und weiter nach Schulzendorf war bis 7 Uhr abends mit hinausfahrende und bis nach Mitternacht mit zurückfahrenden Wagen „bedeckt“. Seit 1854 fuhr im Mai oder Juni jeden Jahres der „Verein der Berliner Künstler“ mit Ehefrauen und Kindern in Kremsern vom Oranienburger Tor aus nach Schulzendorf, um im Wald zu lagern und bei Kaffee und Bier ein Künstlerfest zu feiern. Seit 1868 konnten hier sogar Nicht-Mitglieder teilnehmen.

Vielleicht haben diese Feste Paul Lindau angeregt, 1881 seinen 42. Geburtstag im grünen Schulzendorf zu feiern. Doch wer war Paul Lindau? Lindau (geb. 3.6.1839, verst. 31.1.1919), der Philosophie und Literaturgeschichte studierte, wurde als Schriftsteller, Journalist und Theaterleiter bekannt. Von der Wochenschrift „Die Gegenwart“ über den Romanzyklus „Berlin“ mit den drei Bänden „Der Zug nach dem Westen“, „Arme Mädchen“ und „Spitzen“ sowie „Ausflüge ins Kriminalistische“ seien nur ganz wenige Werke genannt.

Sommerfest 2Lindau wollte seinen Geburtstag als einen „besonders solennen Actus“ feiern. Ein Waldfest sollte es werden. Alles sollte aufs Prächtigste arrangiert werden. Als „poesieumsponnene“ Waldecke wählte er Schulzendorf aus. In dem bei Tegel gelegenen Dorf, das trotz seines Namens nie ein Dorf im eigentlichen Sinne war, gab es einen „großen“ und einen „kleinen“ Gastwirt, d. h. einen von bedeutendem und einen von weniger bedeutendem Ruf. In der Überlieferung wurden die Namen der beiden Gastwirte nicht genannt. Doch bei dem „großen“ Wirt dürfte es sich um Gottlieb Wagner gehandelt haben. Über sein Restaurant schrieb das Niederbarnimer Kreisblatt am 28.4.1880 den abgebildeten kleinen Artikel. Lindau begab sich natürlich zu dem „großen“ Wirt und erklärte ihm, dass er am Folgetag (!) mit einer größeren Gesellschaft einen wichtigen Tag feiern wolle. Die Gesellschaft würde alle Konsumartikel wie Fleisch und Wein, ja bis zu den Erdbeeren hin selbst mitbringen. Er, der Wirt, hätte nur die „unwichtigen Ingredienzien“, insbesondere Bestecke, Gläser, Servietten, Eis (nur das zum Kühlen) und andere ungenießbare, aber erforderliche Dinge zu liefern. Für die ganze „chose“ sollte der Wirt seine Pauschalforderung nennen. Der Gastwirt dachte sicher, dass solch ein Gast nicht jeden Tag vorbeikommen würde. Er nannte einen derart hohen Betrag, der ausgereicht hätte, auch alle essbaren Bestandteile des Picknicks davon zu beschaffen. Höchst indigniert verließ Lindau die Schwelle des „großen“ (sprich: teuren) Gastwirts und ging zum „kleinen“. Der tat´s billiger, man wurde sich schnell handelseinig.

Am kommenden Nachmittag war auch in Schulzendorf schönes Wetter. Der Wind wehte nur schwach, der Himmel war wolkenlos und das Thermometer zeigte 19o C an. Ein richtiger Festzug traf ein, allen voran ein Spitzreiter in altdeutscher Tracht, gefolgt von einem Kremser mit Musik. Es schlossen dann der Gastgeber und seine Gäste an, zu denen Graf Wilhelm von Bismarck (Reichstagsabgeordneter und Sohn des Reichskanzlers), Graf Limburg-Stirum (Staatssekretär im Auswärtiges Amt), Legationsrat Lindau, Generalkonsul Landau, Herr von Schönthan (Dichter) und weitere zwei oder drei Dutzend zwar weniger berühmte, aber ebenfalls verdienstvolle Persönlichkeiten, teilweise in Begleitung ihrer „besseren Hälften“. Den Festzug beschloss ein geheimnis- und verheißungsvoll aussehender Wagen „Huster´scher Provenienz“1.

Sommerfest 3Der „kleine“ Gastwirt lieferte dem Proviantwagen seine Zutaten, eine poetische Waldecke wurde gefunden, Trompetenfanfaren signalisierten den Beginn des Picknicks. Dem Proviantwagen wurden zunächst einige Klappstühle entnommen, gepolsterte Fußschemel für die Damen folgten. Auch im Wald sollte nichts fehlen. Zur mitgebrachten kalten Küche gehörten gefüllte Poularden, Gänseleberpasteten, kostbare Fische in Gelee, Hummermayonnaise usw. Große Schüsseln mit Erdbeeren (zum Preis von 200 Mark, wie der Gastgeber versicherte!) wurden gereicht, Mosel- und Rheinweine angeboten, Champagnerkühler standen bereit, Bowlengläser erklangen. Witze waren schon zu hören, Toasts auf den Gastgeber wurden ausgesprochen.

Da nahte Ungemach in Gestalt des „großen“ Gastwirts, begleitet von zwei handfesten Hausknechten und „zwei recht unternehmend aussehenden Kötern“. Er forderte Lindau in kategorischer Weise auf, den Platz zu räumen, weil das Areal ihm gehören würde. Dem Geburtstagskind war das natürlich peinlich. Er nahm den Gastwirt zur Seite und flüsterte ihm zu, doch einen Skandal zu vermeiden, denn seine Gäste wären „Personen allerhöchsten Ranges“. „Was!“ schrie der erboste, sich geschädigt fühlende Wirt, „das wollen noble Leute sein und liegen hier im Grase und fressen wie die .….?“ Bei diesem Vergleich mit dem Tierreich sprangen die Damen von den Stühlen, die Herren postierten sich wie zu einer Schlachtlinie. Der Wirt verschwand, nicht ohne zu drohen, dass er gleich wiederkommen und zeigen würde, was eine Harke wäre.

Tatsächlich erschien er bald wieder, nun nicht nur in Hausknecht- und Hundebegleitung, sondern auch unter dem Schutz eines bewaffneten Landgendarmen. Er wiederholte den Vorwurf, dass die Gesellschaft auf seinem Grund und Boden feiern würde. Statt Personen von hohem Rang wären hier sicher Schwindler und „Schlemmer“. Nun wurde die Stimmung der Gesellschaft immer gereizter. Paul Lindau bat den Grafen von Bismarck, doch dem Gendarmen zu sagen, wer er sei. Den Landgendarmen umringten inzwischen andere Persönlichkeiten und forderten ihn auf, sie gegen die Beleidigungen des Wirtes zu schützen. Nun stellte sich von Bismarck dem Gendarmen vor und verlangte Schutz. „Und ich bin Graf Limburg-Stirum vom Auswärtigen Amt“, nannte jetzt auch dieser seinen Namen. „Das kann Jeder sagen“, ereiferte sich der Gastwirt, „beweisen Sie das!“ Nun wollte auch der Uniformierte Papiere darüber sehen, dass von Bismarck tatsächlich der sei, für den er sich ausgab. „Es ist gegen meine Gepflogenheiten, auf Landpartien Legitimationspapiere mitzunehmen“, erwiderte von Bismarck. „ Hier ist meine Karte, und wenn Ihnen diese nicht genügt, dann bringen Sie mir eine Vorladung vor Ihr Schulzenamt in meine Wohnung, Wilhelmstraße 76, Reichskanzlerpalais. Ich werde pünktlich erscheinen“. „Ich werde mich hüten“, war die klassische Antwort des Gendarmen, „und werde zu Bismarck´n gehen; da könnt´ ich schöne rausfliegen“. Hochgradig erregt verlangte dann noch Generalkonsul Landau die Bestrafung des Gastwirts wegen des Satzes „… über das Fressen wie die ….“

Nun entstanden Handgreiflichkeiten, die Hausknechte krempelten Ihre Ärmel hoch, die Hunde wurden von der Gesellschaft mit Stockschlägen mühsam abgewehrt. Dem Eingreifen des Gendarmen und seinem obrigkeitlichen Machtwort war es zu verdanken, dass eine Beschwichtigung eintrat. Auf Weisung verließ die Geburtstagsgesellschaft den Platz und setzte das Fest auf einem Areal fort, das zum Terrain des „kleinen“ Gastwirts gehörte.

Doch der Landgendarm hatte ein unruhiges Gewissen. Vielleicht ging ihm zudem durch den Kopf, dass er am heutigen Tag ungeachtet seines ja festgelegten Distrikts viel lieber Dienst im Dörfchen Tegel versehen hätte. Hier wurde bestimmt angenehmer gefeiert, und zwar die Einweihung der Pferdebahn durch geladene Gäste. So kehrte er jedenfalls nach Tegel zurück und berichtete dem „Ortsvorstand“2 über das Geschehene und insbesondere über jenen Mann, der unter Missbrauch eines hochangesehenen Namens sich als Wilhelm von Bismarck ausgab. Der „Ortsvorstand“ ahnte Unheil. Er kannte den Grafen und fürchtete, dass der Gendarm einen ungeheuerlichen Fehlgriff getan hatte. Beide gingen nach Schulzendorf, wo Wilhelm von Bismarck sogleich dem „Ortsvorstand“ entgegentrat. Damit waren die schlimmsten Befürchtungen des Herbeigeeilten noch übertroffen. Eine Flut von Vorwürfen ergoss sich über den Gendarmen. Die Gesellschaft aber war froh, dass sich die Angelegenheit aufgeklärt hatte. Sie nahm nun sogar den armen Gendarmen in Schutz und lud den Tegeler „Ortsvorstand“ ein, doch mit von der Partie zu sein. So endete die Geburtstagsfeier noch in Harmonie.

Paul Lindau wird mit Sicherheit nie wieder ein Picknick in einer lauschigen Waldecke veranstaltet haben, ohne vorher die Besitzverhältnisse des Terrains geklärt zu haben. Graf Wilhelm von Bismarck soll seinem Vater das Erlebte „als schätzbares Material zu einer Novelle zum Forstschutzgesetz“ unterbreitet haben. Für Paul Lindau könnte das Erlebnis Stoff für eine Novelle in einem Roman gewesen sein. Ob daraus aber wirklich gleich zwei ganz unterschiedliche Novellen entstanden sind, ist nicht bekannt.

Restaurateur Wagner aber soll fortan als „Grober Gottlieb“ bezeichnet worden sein.

Gerhard Völzmann


1 A. Huster war Hof-Tracteur (Garkoch, Speisewirt) Seiner Majestät des Kaisers und Königs und Koch auf Bestellung in Berlin W, Mohrenstraße 49.

2 Die Amtsbezeichnung wurde ungenau überliefert. Dadurch ist es nicht eindeutig, ob in Tegel der Gemeindevorsteher Ziekow oder aber der Amtsvorsteher Brunow – als Ortspolizeibehörde – gemeint war. Gendarmen unterstanden der unmittelbaren militärischen Aufsicht durch Gendarmerieoffiziere und Oberwachtmeister, waren mithin nicht den Ortspolizeibehörden unterstellt. Sie hatten aber Aufforderungen dieser Behörde zu befolgen.