Die Kapelle Am Fließtal

Kaum ein Tegeler nimmt die Kapelle des Friedhofs Am Fließtal wahr, so lange er oder sie ihr nicht, durch einen Trauerfall gezwungen, einen Besuch abstattet. Und zu einem solchen Anlass nimmt man auch nicht wahr, dass es sich hier um das ungewöhnliche Bauwerk eines herausragenden Architektenpaares der Nachkriegszeit handelt. Fehling und Gogel bauten in (West-) Berlin auch das Institut für Meteorologie der Freien Universität, die Wohnbebauung Hallesches Ufer Ecke Stresemannstraße, das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, das Gemeindezentrum Alt-Schöneberg, das Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Freien Universität Berlin und andere. Ihr Entwurf für die Bebauung des Tegeler Hafens für die IBA neu 1985/87 konnte sich hingegen nicht durchsetzen, glücklicherweise, wirkt er doch mit seiner strengen Geometrie geradezu abweisend, während die realisierten Bauten mit ihren spielerischen Elementen gelegentlich einen leichten und fröhlichen Eindruck vermitteln.

Wenn man den Eingang vom Waidmannsluster Damm hinaufgeht zur Kapelle, kommt sie einem sehr klein vor: Sie duckt sich in die Landschaft, erhebt sich nur schwach auf einer klitzekleinen Anhöhe. Keine Einschüchterungsarchitektur, kein Verweis auf die Ewigkeit, auf ein Jenseits, eher wie eine Einladung in ein Gebäude, in dem man sich drinnen trotz des Anlasses und trotz der abweisenden Geometrie vielleicht geborgen fühlen kann.

Eingang der Kapelle

Es wirkt futuristisch, zusammengewürfelt, auf den ersten Blick ist kein rechter Winkel zu erkennen, mal Kuben, mal Zylinder, als ob verschiedene geometrische Figuren auf einen Haufen geworfen wurden.

Das Runde und das Eckige

Im Grundriss erschließen sich die einzelnen Teile als spezielle Funktionskörper für Verwaltung, Anlieferungsraum, Feierhalle.

Ein kleines doppelflügeliges Eingangstor oben empfängt den Fußgänger, ein zweigeschossiges Riesentor unten die Leichenwagen mit ihrer Last. Das Tor wirkt hier so mächtig, dass es kaum von Menschenhand geöffnet werden kann – wie ein Tor zur Unterwelt. Und vom Parterre, der Fahrstraße, aus erkennt man die wahre Höhe und den Umfang des Gesamtbauwerks, es ist überraschenderweise gar nicht die etwas überdimensionierte modernistische Gartenlaube. Und die gelb-braunen Ziegel halten alles zusammen. Bei ihnen handelt es sich um Klinker, also Hartbrandziegel. Gleichwohl fällt auf, dass die Architekten mit einer ganzen Reihe von Materialien arbeiten: Klinker, Beton, Metall, Holz. Leider ist – besonders im Zusammenhang mit dem Dach – nicht in jedem Fall zu erkennen, ob es sich um Originalmaterial handelt. So stahlen Diebe Teile des Kupferdaches, das nun mit Zink gedeckt ist. Und die dunklen wie Asbest aussehenden dünnen Tafeln unterhalb des Daches, sind sie auch erst bei der Dachsanierung eingesetzt worden? Merkwürdig unprofessionell wirkt die wulstige Polyurethan-Ausschäumung eines Regenrohraustritts.

Man kann sich auch kaum vorstellen, dass der gegenüber seinem Unterteil verschobene Endpfeiler einer Mauer so von den Architekten geplant war. An der freigerückten Stelle bilden die Löcher der Ziegel ideale Wasserauffangbehälter.

Hingegen erscheint eine andere Lösung als eine raffinierte, um der stumpfen Ecke aus Ziegeln ein interessantes Aussehen zu verleihen: Die im stumpfen Winkel aufeinanderstoßenden Ziegel bilden Hohlräume, die eine Füllung mit Mörtel verlangen. Aber Fehling und Gogel haben diesen Hohlraum nur unten komplett mit Mörtel verfugt, oben hingegen kaum, so dass eine schräg nach vorn abfallende Fläche entstand. Was war der Sinn dieses aufwendigen Manövers? Nur oben erzeugt der Hohlraum einen Schatten, der sich nach unten verflüchtigt. Dadurch wirkt die Ecke lebendig.

In der Feierhalle sind die Wände mit den gleichen gelb-braunen Klinkern gestaltet wie die Außenwände, allerdings lockern an einigen Stellen Löcher zwischen den Klinkern die einheitliche Fläche auf. „Staubfänger“, sagt man von der Friedhofsverwaltung dazu. Die Klinker passen gut zu den Holzbänken. Aber warum mussten die Architekten für das große Tor, das die Halle zum Friedhof hin öffnet, ausgerechnet steril wirkenden Edelstahl verwenden? Es ist vom Friedhofspersonal nicht zu säubern, dafür muss eine Spezialfirma anrücken. Und warum steigt die Feierhalle nach hinten hin an wie ein Hörsaal?

Auch hier wieder Spitzen und Schrägen – geradezu expressionistisch.

Innenansicht mit Ecken

Über der Fläche, die für den Sarg oder die Urne reserviert ist, die mit einem Aufzug emporbefördert werden, hängen in der Decke viele weiße Röhren. Man könnte sie für Leuchten halten, aber es sind tatsächlich nur Röhren, die das Tageslicht in den Raum hineinleiten. Dadurch ergibt sich der Eindruck einer von oben hereinbrechenden Helligkeit, sofern diese nicht durch braune Lamellen abgedunkelt wird.

Innenraum, helle Decke

Man tut Fehling und Gogel sicher kein Unrecht an, wenn man sie bei aller Individualität doch dem „organischen Funktionalismus“ im Gefolge von Hugo Häring und ein wenig parallel zu Hans Scharoun sieht, aber in deutlicher Distanz zu Mies van der Rohe und Walter Gropius, die sich mehr für die Möglichkeiten des industriellen Bauens interessierten. (So:Wikipedia „Der Ring“, eine Vereinigung renommierter Architekten der Weimarer Republik, https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Ring)

Meinhard Schröder