Zwischen Dalldorf und Hermsdorf sollte Neu-Tegel entstehen

Bekanntlich lässt sich der Ortsteil Tegel in verschiedene Bereiche aufteilen. Zunächst denkt man sicher an das Zentrum oder  den Kernbereich, der insbesondere Alt-Tegel, die Berliner Straße, den Fußgängerabschnitt der Gorkistraße sowie die angrenzenden Nebenstraßen beinhaltet. Die Bezeichnungen Tegel-Nord und Schlossbezirk sind heute vielleicht nicht mehr ganz so geläufig. Es handelt sich dabei um die Villengegend am Humboldtschloss. Die einst in der Campestraße 11 gelegene Abteilung Hospital des Städt. Humboldt-Krankenhauses trug zum Beispiel im Namen auch die Angabe Tegel-Nord.

Von einem „zweiten Tegel“ schrieben Zeitungen, als jenseits der Bahnlinie in Richtung Wittenau nach dem ersten Weltkrieg zunächst die Kleinhaussiedlung „Am Steinberg“ und später durch die Baugesellschaft „Roland“ ganze Wohnblöcke entstanden. Aus dem „zweiten Tegel“ wurde Neu-Tegel.

Über eine „kommende Landhaussiedlung auf der Tegeler Bauernheide“ berichtete eine Zeitung im August 1932, als die Groß-Berliner Boden- und Bau-Gesellschaft unweit der Bernauer Straße mit dem Verkauf von Parzellen für eine Siedlung „Waldidyll am Tegeler See“ begann. In der Folgezeit entwickelte sich hier der Ortsteil Tegel-Süd. Auch das hier einmal in der Bernauer Straße 96 gelegene Städt. Krankenhaus Tegel-Süd trug in seinem Namen die genaue Ortsteil-Angabe.

Der Vollständigkeit halber seien an dieser Stelle auch die in Richtung Waidmannslust erbaute St. Joseph-Siedlung und die Freie Scholle genannt, für die sich kein gemeinsamer Bereichsname entwickelt hat.

Soweit in aller Kürze Angaben zu den verschiedenen Bereichen von Tegel. Blicken wir nun  ausführlicher nach Neu-Tegel, womit aber nicht der oben genannte Teil von Tegel gemeint ist. Vielmehr führen uns die Betrachtungen zu einem Terrain, das im Nordwesten von Berlin beiderseits der Chaussee nach Oranienburg zwischen den Dörfern Dalldorf (Wittenau) und Hermsdorf lag. Heute wären dies Teile des Straßenzuges Oranienburger Straße und Oraniendamm. Es waren die 1870-er Jahre, als nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 in Berlin eine Entwicklung einsetzte, die Otto Glagau bereits 1875 in einem Artikel in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ mit Begriffen wie Börsen- und Gründungsschwindel, Häuserschacher und Baustellenwucher zutreffend beschrieb. Unzählige Bauvereine, -gesellschaften und -banken wurden gegründet. Viele von ihnen bauten nicht, hatten dies auch gar nicht vor. Sie erstellten Baupläne und lockten Kunden, die sich durch eine Baubank Geld beschafften. Selbst während der „Bauzeit“ wurden ihnen Zinsen versprochen. Viele Baubanken der Gründerjahren mussten schon bald Konkurs anmelden; die Anleger verloren ihr Kapital.

Anfang 1872 wurde die Central-Bank für Bauten mit einem Kapital von 550.000 Talern mit Sitz in der Berliner Friedrichstraße 105 a von Dr. A. Stort (Aufsichtsrat), Leo Wollenberger, Hugo Mamroth, G.H.W. Bergmann, Geh. Admiralitätsrat Wandel und weiteren Personen   gegründet. Weitaus drastischer formulierte dies Glagau mit dem Satz: Eine der größten Blasen, die aus dem Hexenkessel emporstiegen, war die ´Centralbank für Bauten´, die zum Verfasser Herrn Eduard Mamroth hat.

Das Grundkapital der Bank wurde schon bald aufgestockt, bis es zuletzt 5.500.000 Taler betrug. Noch im Jahre 1872 gründete die Bank verschiedene weitere Aktien- (Bau-) Gesellschaften, unter anderem am 25.10. die Bau-Gesellschaft „Cottage“. Sie warb damit, dass an der Oranienburger Chaussee, einer „von jeher für Landpartien beliebten Gegend“, nach Eröffnung der Berliner Nord-Eisenbahn und einer Reinickendorfer Pferdebahn ein zu „Villegiaturen“ (sinngemäß: Ferien, Landaufenthalt) geeignetes Terrain zur Verfügung steht. Zum Terrain der „Cottage“ gehörte der höchste Punkt der Rollberge, „von wo aus man die schönste Fernsicht genießt, die in der Nähe Berlins zu finden sein dürfte“.

311 Baustellen wies der vom Königlichen Gartenbau-Direktor Neide entworfene Bebauungsplan aus. Grundsätzlich waren die einzelnen Stellen 1 Morgen groß, um – wie es hieß – den ländlichen Charakter zu waren. Je nach Lage der Parzellen waren 10-15 Taler pro Quadratrute (rund 14 m²) zu bezahlen, wobei ein Viertel bis ein Drittel des Kaufpreises bar anzuzahlen war.

Neu-TegelNatürlich übernahm die Bau-Gesellschaft die Herstellung von Villen in jeder beliebigen Größe „unter den coulantesten Bedingungen“. Die Herren Kaiser und von Grossheim, Architekten der „Cottage“, hatten bereits eine Reihe von „äußerst geschmackvollen Entwürfen“ für Baulustige gefertigt.

Im August 1873 berichtete eine Berliner Zeitung über die Aktivitäten der Bau-Gesellschaft. Danach schritt die Entwicklung der Villenkolonie „rüstig“ vorwärts. Soweit der Bau von Landhäusern in Angriff genommen wurde, sollten noch im gleichen Jahr 10 – 12 Villen im Rohbau fertig werden. Während des Ausstechens eines Teiches stießen die Arbeiter auf ein Torfvorkommen. Der Torf wurde einer chemischen Analyse unterzogen mit dem Ergebnis, dass er in der Qualität dem aus Linum gleichkam. Während des Torfabbaus wurden gleichzeitig Wasseranlagen verknüpft, um dem Areal ein parkartiges Aussehen zu verleihen.

Im Oktober 1873 kam es zwischen der Berliner Nordbahn und „Cottage“ zu einer Einigung, nach der die Bau-Gesellschaft Terrain für eine Haltestelle der Bahn in Dalldorf (heutiger S-Bahnhof Wittenau, Wilhelmsruher Damm) abgab, um damit die neue Kolonie zu erschließen. Mit der Bahn sollte dann „Neu-Tegel“ von Berlin aus so schnell zu erreichen sein wie Steglitz.
Ende 1873 warb die Bau-Gesellschaft auch damit, dass sie bis zu der im nächsten Sommer (1874) stattfindenden Eröffnung der Nord-Eisenbahn einen eigenen Omnibusdienst von Berlin aus einrichten würde. Wie wir wissen, wurde die Nordbahn viel später, nämlich erst am 1.10.1877 in Betrieb genommen.

Blicken wir nun noch einmal auf die Ausführungen von Glagau in der „Gartenlaube“. Danach wurden die Aktien der „Central-Bank für Bauten“ bereits im April 1873, kurz vor dem Krach an der Börse, mit einem Kurs von 420 % (!) gehandelt. Glagau schildert weiter, dass dann der Kurs binnen 6 Monaten auf unter 50 % abstürzte. Trotzdem verteilte die Bank eine Dividende von 43 %. Mit einer solchen Ausschüttung sollten weitere Aktienkäufer gelockt werden.

Als der Kurs der Bank bei etwa 12 % stand, lag der der Bau-Gesellschaft „Cottage“ bei 0. Das Terrain von „Neu-Tegel“ wurde auf einen Wert von nur noch 44.000 Talern geschätzt, auf dem Schafe weideten und Löwenzahn wuchs. Die Blüten der wuchernden Blume wurden nach dem Börsenkrach auch „Gründerblume“ genannt.

Schließlich wurde im April 1881 über die Central-Bank für Bauten ein Konkursverfahren eröffnet. Noch im gleichen Jahr wurde das Grundstück mit dem Firmensitz der Bank in der Friedrichstraße 105a für 523.000 Mark an die Gothaer Grund-Creditbank verkauft. Die darauf lastende Hypothek war höher. Während die Aktionäre leer ausgingen, soll Vorstandsmitglied Eduard Mamroth, auch durch andere Aktivitäten, ein reicher Mann geworden sein. Ab 1884 war in dem Haus Friedrichstraße 105 a unter anderem auch die  Schiff- und Maschinenbau-Actiengesellschaft „Germania“ ansässig. Bekanntlich hatte diese in Tegel die Egellssche Fabrik „Eisenhammer“ übernommen.

Eine zwischen Dalldorf und Hermsdorf gelegene Villenkolonie mit dem Namen „Neu-Tegel“ ist im Ergebnis nicht entstanden. Damit konnte auch später in Tegel ein Ortsteilbereich diese Bezeichnung erhalten, ohne dass er bereits vorhanden war und zu Verwechslungen hätte führen können.

Gerhard Völzmann