1909 in Schulzendorf – Flugversuche „mit einem langbeinigen und kurzhalsigen Riesenvogel“

Man nannte sie „Schwingenflieger“, jene Männer, die im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert Flugapparate konstruierten, mit deren Hilfe sie den Flug der Vögel nachahmen wollten. Damit wichen sie bewusst von anderen Systemen wie dem Gleitfliegen (Vorbild z. B. Wright) ab. Der ohne Zweifel bis in die heutige Zeit bekannteste „Schwingenflieger“ war Otto Lilienthal, dessen Versuche durch einen Todessturz jäh endeten.

Ein anderer Mann, dessen Name Bruno Scholz in Vergessenheit geraten ist, hatte sich den Überlegungen Lilienthals verschrieben. Er glaubte, besserer Resultate erzielen zu können. Scholz wohnte in Berlin O 34, Kopernikusstraße 22. Von Beruf war er Architekt, hatte sich aber bereits 1897 von dieser Tätigkeit losgesagt. Seitdem gab es wohl, egal ob Storch oder Spatz, keinen Vogel, den es nicht im Flug beobachtete, um Rückschlüsse auf die Konstruktion eines Flugapparates ziehen zu können. Zwölf Jahre später, im August 1909, war es dann soweit. Scholz brachte seinen eigenartig konstruierten „Aeroplan“ auf ein zu Schulzendorf bei Tegel gehörendes Gelände. Wo dies genau lag, ist nicht bekannt. Es war eine „im gesegneten Sommergrün prangende Wiese“, die sich unmittelbar an der Chaussee Tegel – Heiligensee unweit des Schulzendorfer Bahnhofes befand. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass erst im Folgejahr ein Flugplatz in Schulzendorf geplant und eingeweiht wurde. Es war eine vorherige Ackerfläche zu beiden Seiten des heutigen Bekassinenweges.

Der geplante Flugversuch von Scholz zog auch Pressevertreter an, obwohl die wenige Tage später am 29.8. vorgesehene Ankunft des Grafen Zeppelin mit seinem Luftschiff Z III auf dem Tegeler Schießplatz eine unvergleichbar höhere Beachtung bei den Berlinern hervorrief. Der Reporter einer Berliner Zeitung beschrieb sehr ausführlich und humorvoll seine Fahrt nach Schulzendorf und die Besichtigung der Flugmaschine. Eigentlich hatte er sich als angenehmer gewünscht, dass der „Vogel von Schulzendorf“ in gerader Linie nach Berlin gekommen wäre. Denn Schulzendorf ist selbst im Zeitalter des Verkehrs recht schwierig zu erreichen, wenn man nicht gerade einen der drei Züge der Kremmener Bahn benutzen kann, die täglich dorthin fahren.

Der „Vogel von Schulzendorf“ am 18.8.1909 Bildnachweis: Sammlung Frank-Max Polzin.

Am Ziel angekommen, erwartete ihn keinesfalls ein fertiger „Aeroplan“. Vielmehr fiel sein Blick auf „ein hochbeiniges Gestell, dass wie ein ausgenommener Vogel aussah; vornweg ragte ein bleiches Etwas, ähnlich dem Skelett eines Vogelkopfes“. Das Objekt hing mittels einer Kette an einem Galgen. Glaubte der Reporter zunächst an eine „schreckliche Exekution“, klärte ihn der Erfinder schnell auf, dass seine Flugmaschine erst noch durch den Einbau weiterer Teile „zum Leben erweckt“ werden müsste. Diese befanden sich in einer Scheune.

Ergänzend zur Abbildung ist die überlieferte Beschreibung des Flugobjektes interessant. Scholz hatte das Gerüst seiner Konstruktion aus Bambusstäben hergestellt, die Segel bestanden aus Leinwand. Der ganze Apparat hatte eine Länge von 17 m, die Spannweite der Flügel betrug 14 m. Der „Vogelkörper“ bot Sitzmöglichkeiten für zwei Personen und nahm zudem zwei Motoren (je 8 PS) und schließlich ein großes, senkrecht stehendes Gewinde (eine Zentrifuge) auf. Die Zentrifuge sollte beim Heben des Apparates helfen. Lange Beine auf Rädern, die mit Bolzen und Federn versehene „Kniegelenke“ hatten, sollten auf dem Boden ein „Springen“ ermöglichen. An der Gondel war vorn der mit Seitensteuer ausgerüstete Kopf, hinten ein überaus langer, auch mit Steuer versehener Schwanz. Die je 6 m langen und 4 m breiten Flügel hatten vom zweiten Motor betriebene Klappen, die sich beim Heben öffnen und beim Herabschlagen wieder schließen sollten. Sechzig mal in der Minute sollte jeder Flügel durch ein recht kompliziertes Scherengetriebe auf- und niederschlagen. Der ganze Flugkörper hatte natürlich noch ein Dach. Insgesamt hatte der „langbeinige und kurzhalsige Riesenvogel“ 100 qm Segelfläche und ein Gesamtgewicht von 500 kg.

Bruno Scholz offenbarte freimütig, dass die Flugmaschine einen Teil seines Lebens bedeutete und sein ganzes Hab und Gut aufgezehrt hatte. Ein paar hundert Mark fehlten ihm zuletzt, die er sich noch erhoffte. Er benötigte dieses Geld für die Arbeiter, die ihm beim Zusammenbau des „Aeroplans“ halfen. Anerkannt wurde, dass der Erfinder sich in Schulzendorf nicht, wie sonst üblich, den Blicken entzog, sondern an öffentlicher Straße die Montagen vollzog.

Der eingangs erwähnte Reporter schloss seinen Bericht so humorvoll, wie er ihn begonnen hatte, mit folgendem Satz: Vielleicht fliegt der Vogel einmal wirklich, und bald gibt es dann in dem stillen Schulzendorf keine Ackerbauer mehr, sondern noch noch … Vogelbauer.

Kommen wir nun zum 18.8.1909. Es war jener Abend, an dem Bruno Scholz seinen ersten Flugversuch mit dem „Vogel von Schulzendorf“ unternahm. Sie, liebe Leserin, lieber Leser dieser Zeilen, ahnen vielleicht schon, zu welchem Ergebnis dieser führte. Scholz setzte die Motoren in Gang. Der Vogel hob sich tatsächlich etwa 40 Zentimeter, gewaltige Flügelschläge erfolgten, doch dann stürzte das Gerät hilflos in sich zusammen. Was war geschehen? Eine auch aus Bambus(!) hergestellte Kupplung war gebrochen, das Experiment damit rasch zu Ende. Der Erfinder wollte sich durch diesen Misserfolg nicht entmutigen lassen, die Kupplung aus besserem Material herstellen und dann seine Versuche fortsetzen. Dazu kam es aber wohl nicht mehr. Vielmehr soll Scholz sein Lebenswerk eigenhändig zerschlagen haben. Auch aus der weiteren Entwicklung des Flugwesens wissen wir, dass der „Schwingenfliegerei“, wie sie Scholz sich vorstellte, keine praktische Zukunft beschieden war.