Aus dem Leben eines Tegeler Polizisten

Nennen wir ihn Walter Lehmann, jenen Polizisten, aus dessen Leben dieser Rückblick berichtet. Der Mann wohnte mit seiner Familie viele Jahre in Tegel und arbeitete hier auch, bis er später in anderen Ortsteilen von Reinickendorf tätig war. Sein Leben währte von der Kaiserzeit der 1890er Jahren bis in die 1950er Nachkriegsjahre. Es war eine ereignisreiche Zeitspanne. Erinnert sei nur an die beiden Weltkriege, die Inflation, Hitlers Machtergreifung, den Zusammenbruch des Staates, die Viermächteteilung Berlins und die Blockade West-Berlins.
Im Jahre 1893 hatte Berlin 1.692.172 Einwohner, wobei in dieser Zahl 23.484 Personen enthalten waren, die dem Militär angehörten. In demselben Jahr wurden 25.352 Jungen und 24.371 Mädchen, mithin täglich etwa 140 Babys geboren. Zwei Jahre später erblickte irgendwo im Häusermeer der Kaiserstadt Berlin auch der kleine Walter Lehmann das Licht der Welt. Vom 6. – 14. Lebensjahr besuchte das Kind eine Volksschule, um dann 1909 aus der I. Klasse, wie damals noch üblich, entlassen zu werden. Es folgte bis 1912 eine Lehre in Eberswalde, die Lehmann mit Erfolg als Handlungsgehilfe in einem Kolonialwaren- und Delikatessengeschäft abschloss. Im genannten Ort wie auch in Angermünde arbeitete Lehmann dann bis 1914 im erlernten Beruf.

Noch vor Ausbruch des 1. Weltkrieges (2.8.1914) meldete sich Lehmann beim Militär zu einem freiwilligen Eintritt. Hierfür benötigte er eine Erlaubnis des Zivilvorsitzenden der Ersatz-Kommission des Aushebungsbezirks Angermünde, die ihm am 11.5.1914 für einen freiwilligen Diensteintritt für 2 – 4 Jahre erteilt wurde. Vom September 1914 bis Dezember 1918 diente er bei der Matrosenartillerie in Kiel und beim Marinekorps in Flandern. Vom 1.3. – 8.5.1919 gehörte Lehmann kurze Zeit der Streifabteilung der Brigade Reinhard an, um dann am 6.6.1919 als Unterwachtmeister zur neu gegründeten Sicherheitswehr zu wechseln. Aus dieser entstand die Sicherheitspolizei, deren Angehörige grüne Uniformen trugen. Der Sicherheitspolizei folgte in Berlin die Schutzpolizei. Lehmann wurde am 1.9.1920 zum Wachtmeister beförderte. Er verrichtete seinen Dienst bei der 1. Hundertschaft der Polizei-Abteilung Tegel. Durch Bestallungs-Urkunde v. 20.6.1921 erfolgte eine Ernennung zum etatmäßigen Polizei-Wachtmeister der Schutzpolizei in Berlin, nachdem Lehmann seine Befähigung nachgewiesen und Proben seiner „Geeignetheit“ abgelegt hatte. Am 1.4.1923 erfolgte eine Beförderung zum etatmäßigen Polizei-Oberwachtmeister.
Im Oktober und November 1923 besuchte der Oberwachtmeister einen abgekürzten Beförderungslehrgang, den er mit dem Gesamturteil „gut“ abschloss. Dabei wurde er sogar von der mündlichen Prüfung befreit.
Vom Mai 1924 – März 1926 besuchte Oberwachtmeister Lehmann beim Kommando der staatlichen Schutzpolizei in Berlin einen Unterrichtskurs für Zivildienst-Anwärter, dessen Prüfung er bestand.
Während dieser Zeit heiratete Lehmann im Jahre 1925. Seine Frau Anna kam aus Schlesien. Das Ehepaar wohnte in Neu-Heiligensee. 1927 stellte sich Nachwuchs ein.
Am 1.4.1928 wurde Walter Lehmann erneut befördert. Nun war er Hauptwachtmeister und unkündbar angestellt. Interessant sind auch Angaben über das Diensteinkommen. So hatte der Polizist bis 31.3.1928 ein ruhegehaltsfähiges Diensteinkommen von jährlich 2946 RM. Hiervon hätten ihm ab 1.4.1928 im Falle einer Entlassung im 1. Jahr 6/8 als Übergangsgebührnisse, im 2. Jahr 5/8 und im 3. Jahr 4/8 zugestanden. Doch diese Beträge ruhten natürlich, weil er ja weiter beschäftigt wurde.
Zu Beginn der 1930er Jahre zog die Familie Lehmann von Neu-Heiligensee nach Neu-Tegel. Hier hatte zu dieser Zeit die „Roland“, Gemeinnützige Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft, in einem ganzen Komplex Wohnbauten errichtet. Vermutlich war für die Familie nun ein Lebensabschnitt erreicht, mit dem sie zufrieden war. Während seiner Zugehörigkeit zur Schutzpolizei war Walter Lehmann bis 1925 im Revier-Einzeldienst und seitdem im Revier-Abschnitts- und Kommandobürodienst tätig. Am 20.4.1941 erfolgte eine Beförderung zum Meister. Zwischenzeitlich hatte bekanntlich am 1.9.1939 der zweite Weltkrieg begonnen. Lehmann arbeitete nun in der Abteilung Luftschutz. Ab 21.6.1944 war er Revierleutnant. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Lehmann zu keinem Zeitpunkt Mitglied der NSDAP oder einer ihrer zahlreichen Gliederungen war.
Für den 1945 fast 50-jährigen Walter Lehmann war es besonders tragisch, dass er als Angehöriger der Schutzpolizei noch kurz vor der Kapitulation des Deutschen Reiches, die am 8.5.1945 erfolgte, ab 20.4.1945 unter dem Oberbefehl der Wehrmacht zur Verteidigung Berlins eingesetzt wurde. Der Verband, dem Lehmann angehörte, wurde versprengt. Im Bereich Schiffbauerdamm und Friedrich-Karl-Ufer (Lessing-Theater) sollte die Weidendammer Brücke verteidigt werden. Hier geriet der Polizist am 2.5.1945 in sowjetische Gefangenschaft. Ab 2.10.1945 war er in einem Lager in Posen, es folgte dann ein Lageraufenthalt in Estland. Die Kriegsgefangenschaft währte über vier Jahre.
Während dieser Zeit hatte Lehmanns Ehefrau Anna kein Einkommen. Nur durch Verkauf von Möbelstücken, Bekleidung und Hausrat bestritt sie ihren Lebensunterhalt. Vielleicht war auch ein kleiner Garten vorhanden, denn am 11.9.1949 schrieb Walter Lehmann in einem Brief aus der Kriegsgefangenschaft u. a.: Die Erdbeeren kannst Du ja einwecken. Eine Handvoll lohnt sich ja schon. Kurze Zeit nach Absendung der Kriegsgefangenenpost wurde Lehmann am 30.9.1949 entlassen und traf am 5.10. abgemagert und krank in Berlin ein.
Lehmann wollte nach der Rückkehr wieder bei der Schutz- oder Verwaltungspolizei arbeiten. Doch zunächst wurde er nicht eingestellt. Vielmehr musste er sich arbeitslos melden und Arbeitslosenunterstützung bzw. -fürsorge beantragen. Erst später, ab 1.12.1950, wurde er wieder bei der Polizei eingestellt, und zwar im Angestelltenverhältnis bei der Wachpolizei des Französischen Sektors von Berlin. Vorerst galt eine Probezeit von 3 Monaten und eine Verlängerung im Falle der Bewährung. Lehmann war verpflichtet, in einem der westlichen Sektoren Berlins zu wohnen und seinen gesamten Haushalt dort zu führen. Die Ehefrau und Kinder durften nicht im sowjetisch besetzten Sektor Berlins oder in der sowjetisch besetzten Zone wohnhaft sein. Doch die Familie Lehmann wohnte ja ohnehin weiter in Neu-Tegel. Das Netto-Einkommen betrug zu dieser Zeit 236 DM. Davon mussten fast ein Drittel für Miete, Strom und Gas sowie fast die Hälfte für Lebensmittel ausgegeben werden. Da verwundert es nicht, dass größere unvorhergesehene Ausgaben für finanzielle Probleme sorgten. Gerade bei Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft waren das oft Zahnbehandlungskosten, weil während der Internierung keine angemessene Versorgung erfolgte.
Lehmann schied am 30.11.1952 aus dem Dienst der Wachpolizei aus, weil er von der Schutzpolizei übernommen wurde. (Schwarze) Uniformstücke, Dienstausweis und den Polizei-Fahrtausweis musste er zurückgeben. Interessant ist auch, dass damals im behelfsmäßigen Personalausweis der Bewohners West-Berlins noch eine Berufsangabe stand. Lehmann wurde daher beim Ausscheiden als Wachpolizist aufgefordert, die Berufsangabe auf seinem Wohnrevier berichtigen zu lassen.
Ab 1.12.1952 galt für Walter Lehmann das Landesbeamtengesetz vom gleichen Jahr. Nach Artikel 131 des Grundgesetzes hatte er einen Anspruch, wieder nach seinem Rechtsstand vom 8.5.1945 beschäftigt zu werden. Lehmann wurde dadurch Polizei-Obermeister.
Ende gut, alles gut? So könnte man meinen, denn Lehmann hatte ja nun beruflich das erreicht, was er 1945 durch den unseligen Krieg aufgeben musste. Doch es kam anders. Die in der Kriegsgefangenschaft aufgetretene Krankheit nahm so zu, dass seine Polizeidienst-Untauglichkeit festgestellt wurde. Lehmann wurde mit Ablauf des 30.6.1953 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt. Als Ruhegehalt standen ihm 75 % der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge zu. Monatlich waren das rund 380 DM, die versteuert werden mussten. Zudem musste Lehmann bei der damaligen Krankenversicherungsanstalt Berlin (KVAB) eine freiwillige Mitgliedschaft beantragen.
Der Polizei-Obermeister im Ruhestand verstarb 1957 im Alter von 62 Jahren. Wann die Witwe Anna Lehmann starb, ist nicht bekannt.
Abschließend noch eine willkürlich erstellte Tabelle mit Preisen aus den 1950er Jahren:

Die genannten Preise werden aussagekräftiger, wenn man bedenkt, dass das Netto-Einkommen von Walter Lehmann zu Beginn der 1950er Jahre bei 236 DM lag. Von der Vergütung im Ruhestand (380 DM brutto) bestritt dann das Ehepaar seinen Lebensunterhalt.

Gerhard Völzmann