In ganz Deutschland wurden im Jahre 1913 Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon I. vor 100 Jahren durchgeführt. Beispielsweise fand mit 2000 Mitwirkenden in der gerade fertiggestellten Festspielhalle (Jahrhunderthalle) in Breslau das „Festspiel in deutschen Reimen“ anlässlich der Jahrhundertfeier der Freiheitskriege statt, das von Gerhard Hauptmann verfasst und von Professor Max Reinhardt inszeniert wurde. Zur Premiere am 31.5.1913 wurde sogar in Berlin um 1014 Uhr ein Sonderzug eingesetzt. Die Eintrittspreise bewegten sich zwischen 250 und 11 Mark. Den offiziellen Kartenverkauf hatte das Kaufhaus Hermann Tietz in der Leipziger Straße und am Alexanderplatz übernommen.
Protektor der Veranstaltung war Prinz Wilhelm. Er äußerte sich allerdings negativ über das Werk. Ohnehin gab es von Anfang an viel Widerstand, weil Napoleon verherrlichend dargestellt wurde. Die Aufführungen wurden dadurch vorzeitig eingestellt.

Doch Berliner und Bewohner der Umgebung der Kaiserstadt mussten nicht nach Breslau fahren, wenn sie sich ein „vaterländisches Theaterstück“ ansehen wollten, das sich mit dem Thema „Freiheitskampf anno 13“ beschäftigte. In Tegel wurde nämlich eine Freilichtbühne errichtet, die den Besuchern Festspiele mit dem Titel „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ bot. Es war sogar, wenn man so will, eine „Bühne mit Gleisanschluss“, denn am 28.5.1913 wurde auch die Straßenbahn der Gemeinde Heiligensee eingeweiht, die zwischen Tegel und Heiligensee bzw. Tegelort verkehrte. Am 29.5. nahm sie ihren normalen Fahrbetrieb auf. Nachfolgend wollen wir das Freilichttheater und die Aufführungen näher betrachten.

Es waren Einwohner von Tegel, unter ihnen der damalige Gemeinde-Obersekretär Paul Zwiebel, die mit großem Interesse den Plan verfolgten, im Ort ein vaterländisches Theaterstück aufführen zu lassen, in dessen Mittelpunkt Theodor Körner und seine Jäger stehen sollten. Schließlich hatten auch die Bauern des kleinen märkischen Dorfes Tegel unter den Soldaten Napoleons zu leiden. Zwiebel und weitere Tegeler setzten sich mit Schauspielern in Verbindung, die im Tegeler Vereinshaus auftraten. Schnell wurden sich alle Beteiligten einig. Der Tegeler Schlossherr stellte für die Ausführung des Planes an der von Tegel aus gesehen rechten Seite der Karolinenstraße ein Gelände zwischen dem Fließ und dem Weg nach Hermsdorf zur Verfügung. Bauunternehmer Müller stellte in kurzer Zeit an einer Lichtung, deren sanfte Abhänge die Anlage wie ein richtiges Amphitheater erschienen ließen, lange Bankreihen mit Sitzplätzen für 1500 Besucher auf. Im „Tal“, das die Naturbühne bildete, errichte Müller vier (lt. Plan 3) hölzerne Bauernhäuschen und einen Brunnen. Damit war ein Marktplatz entstanden. Das Dorf, von mächtigen Eichen umstanden, sollte man sich in der Nähe von Leipzig gelegen vorstellen. Mit zwei Kassen, Buden für Kaffee- und Bierausschank, WC-Anlagen und natürlich einer hölzernen Direktionsbude vervollständigte Müller die Aufbauten für das Freilichttheater.

Zeitungsanzeige v. 28.5.1913

Zeitungsanzeige v. 28.5.1913

Künstlerischer Leiter der Bühne wurde Oberregisseur Heinrich Frey aus Berlin. Er hatte bereits 1912 die Spiele auf dem Pichelswerder geleitet. Zuvor wurde das von Delbrück geschriebene Stück schon in Sangershausen, Wiesbaden und anderen Orten mit großem Erfolg aufgeführt. 200 Personen traten in dem Stück auf. Neben Schauspielern standen auch Humboldtschüler und ältere Tegeler als Komparsen auf der Bühne. Die Vorstellungen fanden dienstags, donnerstags und sonntags jeweils um 1630 Uhr statt; Sondervorstellungen waren möglich. Die Eintrittspreise waren mäßig, wie die Zeitungsanzeige vom 28.5.1913 zeigte. Vereine und Schulen erhielten zudem besondere Vergünstigungen. Der Ertrag der Veranstaltungen war für Kriegsveteranen bestimmt. Bereits 1912 hatte Kurt Delbrück das Textbuch für das Volksschauspiel zur Jahrhundertfeier in 5 Akten unter dem Titel „Das Volk steht auf“ geschrieben und im Verlag von G. Danner, Mühlhausen/Thüringen, veröffentlicht. Dabei hatte er bewusst die Vorgänge der Kriegsjahre nicht in ein geschlossenes Drama gezwängt. Vielmehr waren es einzelne der unzähligen Geschehnisse, die sich in Dörfern, Familien, Schlössern und Kanzleien zutrugen und vom Autor aufgegriffen wurden, um in Bildern, Episoden und Skizzen die Verzweiflung und die Wut der Menschen jener Zeit widerzuspiegeln.

Am Nachmittag des 25.5.1913 fand im neuen Freilichttheater zu Tegel eine Kostümprobe statt, die gegen 17 Uhr ein jähes Ende nahm. Von der Forstseite aus drangen plötzlich mehrere Rowdys in das Theater ein und handelten wie die Vandalen. Mit Äxten und Handwerkszeug von Zimmermannsleuten schlugen sie auf alle Ausstellungsgegenstände ein und richteten großen Schaden an. Selbst Dächer einzelner Häuser wurden abgedeckt. Im Augenblick des größten Tumults erschien Oberregisseur Frey im Theater. Auch er wurde sofort angegriffen. Als die Nachtwache eintraf, ergriffen die Täter die Flucht. Die Tegeler Oberförsterei wurde verständigt, die die Verfolgung der Täter einleitete. Ob sie gefasst wurden, ist nicht überliefert.
Trotz des Vorfalls konnte die Uraufführung am 29.5.1913 (unterschiedliche Angaben – auch das Datum 28.5. ist überliefert) erfolgen. Doch nicht alles klappte bei den folgenden Aufführungen. Allein ein Häuflein von 30 Statisten, das die „grande armée“ Napoleons verkörpern sollte, erschien doch in der Anzahl etwas wenig.

Der kostümierte Schauspieler, der in die Rolle des Napoleon geschlüpft war, hatte die Arme so verschränkt, dass es so erschien, als wolle er Napoleon eher karikieren. Doch die Volksstimmung wurde sehr lebendig, teils dramatisch gespielt. „Französische Soldaten“ begannen das Dorf zu plündern, ein 14-jähriger Junge erschoss daraufhin einen der Soldaten. Für diese Tat wollte Napoleon das ganze Dorf einäschern. Tatsächlich durfte dies natürlich nicht geschehen, denn die Kulisse wurde ja noch für die weiteren Bilder der Aufführung benötigt. Später trat ein alter Invalide auf, der noch unter dem Alten Fritz gedient hatte. Er drillte die Dorfjugend militärisch so, dass dies an die Regeln des Turnvaters Jahn erinnerte. Lützow´sche Jäger kamen hoch zu Ross seitlich vom Wald her. Der Schauspieler Holthaus stellte ausgezeichnet in liebenswerter und lauterer Derbheit den alten Blücher dar, während Schauspieler Lange als „schlenkriger, französelnder Dorfbarbier“ den Zuschauern vermutlich eine Weile in Erinnerung blieb.

Scherbenfunde auf dem einstigen Theatergelände.

Zum Ende der Vorstellung hin, als Napoleon die Szene beherrschte, verflachte das Stück wohl ein wenig. Doch insgesamt zeigte sich, dass der Oberregisseur die ja große Komparserie prächtig geschult hatte. Nur bei den Pferden war dies, wie ja schon oben angedeutet, nicht gelungen. Kurt Delbrück hatte sein Festspiel, so hieß es damals, so geschrieben, dass es mehr dramatische Szenen und weniger Pathos und Rührseligkeit als die anderen Werke dieses Genres enthielt.

Zum Schluss leuchtete die Abendsonne, der Bühne gegenüber untergehend, auf Waffen, Fahnen und historische Uniformen, während die Musikkapelle alte Choräle spielte. Die Besucher der Tegeler Freilichtbühne waren sich einig, ein vortrefflich aufgezogenes Theaterstück gesehen zu haben, und spendete laut und gern Beifall.

Die Aufführungsstätte sollte ursprünglich nur 14 Tage bestehen. Doch dann erfolgte eine Verlängerung bis einschließlich 17.8.1913. Danach wurden die Bänke wieder abgerissen, die Bühne geriet langsam in Vergessenheit. Wer sich heute in dem Waldstück umsieht, braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, was 1913 hier geschah. Glas- und Porzellanscherben auf dem Areal werfen die Frage auf, wie alt diese wohl sind.

Berlin war gegen die Siebziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts hin noch ganz die kleine preußische Residenz, wie sie uns die Schriftsteller der dreißiger Jahre geschildert haben. Die kleinen einstöckigen Häuschen in den Nebenstraßen der Friedrichstraße, sogar in der Nähe der „Linden“, die Kellerhälse, die hohen Pumpen – Plumpen nannte sie der Berliner -, die Marktstände und anderes waren noch ganz so wie damals erhalten. Die Stadt hatte die Schwelle zu ihrer Großstadtherrlichkeit noch nicht überschritten. Und so hatte auch die Bevölkerung sich noch das Gepräge der dreißiger Jahre erhalten, ihrer besten Zeit seit Bestehen Berlins, wo man zum ersten Male von einem einheitlichen Gesicht, einem bestimmten berlinischen Zuge und einem “leisen Bürgerbehagen“ hatte sprechen können. Ueber dem Ganzen lag noch jener familiäre Zug der Kleinstadt.

So wird man es verstehen können, wenn ich erzähle, dass der Beginn des Weihnachtsmarktes ganz Berlin in Aufregung versetzte. „Am Zehnten werden die Buden aufgebaut“, lautete das geflügelte Wort, sobald der Dezember gekommen war, in allen Familien, und es gab, sobald der Weihnachtsmarkt begonnen hatte, keinen Kreis von Familien oder Freunden, in dem nicht wenigstens eine Partei so lange getrieben hätte, bis man gemeinsam in großer Gesellschaft zum Besuche des Weihnachtsmarktes auszog.

Gleichzeitig mit dem Markte verkündeten die Weihnachtsbäume und die „Pyramiden“ den Beginn der Weihnachtsherrlichkeit. Die Pyramiden, im Volksmunde allgemein „Perhamiden“ geheißen, überwogen. Sie bestanden aus vier mit Tannenreisig – „Tanger“ hübsch vom Volke genannt – umkleideten Stangen, die oben an der Spitze einen Bausch von Tannenreisig, am Fuße einen Boden mit kleiner Galerie trugen. Dort hockten im heimlichen Tannengrün versteckt kleine weiße Schäfchen, aus Gips oder Watte hergestellt, Die Pyramide war noch mit bunten Tapetenbändern und Quasten von Rauschgold oder Goldschaum geschmückt. An den vier Ecken trug sie übereinander je drei bis vier Leuchter, im ganzen gewöhnlich zwölf bis sechzehn Lichter, und wenn sie in ihrer leuchtenden Pracht auf dem Weihnachtstische inmitten aller Herrlichkeiten stand, erschien sie uns Jungen besonders eindrucksvoll. Kleine Spenden von Pfefferkuchen waren geeignet, die Vorfreude des Festes wachzuerhalten. Sie stifteten ungleich mehr Freude als heute, wo jedes zehnte Haus fast ein Konfitürengeschäft enthält und diese Leckereien „gang und gäbe“ sind.

Das damals volkstümliche Weihnachtsgebäck ist heute zum Teil gänzlich verschwunden. Da gab es unter anderem „Mehltuten“, aus denen man sich scherzweisee gegenseitig Mehl ins Gesicht blies: aus bemehltem Pfefferkuchenteig gewickelte Röhren, gegen 20 Zentimeter lang, etwas über zwei Finger dick, kleine Würfel, ungefähr von Fingerdicke, allerlei Menschen- und Tierfiguren aus flachem Teig, runde Plätzchen, braun und hell. Die zartere Gattung führte einen seltsamen, aber allgemein verbreiteten Namen, den man auch heute noch manchmal für kleine Suppenmakronen gebraucht und der mit „Nonne“ zusammenhängt.

Und nun der Weihnachtsmarkt, das Dorado des Vergnügens und Ulkes für alle Stände. Er begann in der Gertraudtenstraße an der Petrikirche, zog sich durch die Breite Straße in mehreren Reihen vom Köllnischen Fischmarkt bis zum Schloß, auf dem Schloßplatze vom Roten Schloß bis zur Kurfürstenbrücke, im Lustgarten von der Schloßbrücke bis zur Kurfürstenbrücke, endlich durch die Schloßfreiheit zwischen dem Schloß und den Häusern hindurch, die anstelle des heutigen Kaiser-Wilhelm-Denkmals standen. Also um das alte Schloß herum, das gerade gut genug war, all dem Lichterglanz, Lärm und Jubel als Folie zu dienen. Durch die langen Budenstraßen hindurch, wo Bude an Bude, Licht an Licht stand, fluteten in dichtem Gewimmel Herren, Damen, Männer, Frauen und Kinder mit Hampelmännern in den Knopflöchern, blasend, Knarren und „Waldteufel“ schwingend, sich gegenseitig mit Gumminasen, Springteufeln und allerlei Scherzartikeln neckend. Rufen und Gelächter an allen Ecken und Enden. Man war wie toll. In den heiteren Lärm hinein drang der stereotype, schmetternde Aufruf aus den Buden “Grrroschen das Stück“, „Stück“ scharf betont, von der Straßenschwelle her von Kindern gerufen: „Einen Dreier det Schäfken“. Ein primitives Spielzeug, ein hölzerner Vogel, bei dem Kopf und Schwanz durch eine Feder mit daranhängender Kugel beweglich waren, wurde überall mit dem Rufe „vorn pickt er, hinten nickt er“ angepriesen.

Die Krone all der Weihnachtsgenüsse, das Paradies für uns Jungen, aber boten die Schmalzkuchenbuden. Der eigenartige Duft, der von dem siedenden Fett, mit der frischen Winterluft gemischt, über den Markt strich, der Schmalzkuchenduft, der erzeugte eigentlich erst den richtigen Weihnachtsrausch. Keiner, der je ohne Schmalzkuchen vom Weihnachtsmarkte gegangen wäre. Es gab mehrere dieser weißen Buden, in deren lichterstrahlendem Innern hellgekleidete Mädchen mit fabelhafter Schnelligkeit die Tüten füllten, den Zuckerstreuer schwangen und sie – jede Tüte einen Groschen – über die fröhliche Menge, die in vier Reihen die Bude belagerte, hinwegreichte. Keiner fragte nach den Zutaten des Gebäckes. Hier schmeckte es wie Götterspeise, die Erinnerung daran währte das ganze Jahr hindurch.

Solcher Art waren die Weihnachtsfreuden in Berlin vor fünfzig Jahren. Die Mittel klein, die Freude groß und ursprünglich. Selige Zeiten für den, der mit seiner Kindheit sich an sie zurückerinnert. Oscar Bolle.

 

Anmerkungen.

Der von dem Schriftsteller und Fotografen Hermann Oscar Bolle (1856 – 1929) über die Berliner Weihnacht verfasste Artikel wurde 1921 in einer Berliner Tageszeitung abgedruckt. Mit den „Erinnerungen aus der Kinderzeit eines alten Berliners“ meinte er sicher seine eigene Vergangenheit. Der Artikel wurde bis hin zur damaligen Rechtschreibung unverändert übernommen. Allerdings wurde in der Überschrift die damals zutreffende Angabe von 50 Jahren auf nunmehr 150 Jahre geändert, um nicht zu irritieren. Auch die Abbildungen waren in der Originalfassung nicht enthalten. Sie wurden aus anderen Quellen eingefügt.

Doch wer war Oscar Bolle? Ein Lebenslauf des Mannes ließ sich nicht ermitteln. Auch ein Personenfoto konnte nicht ausfindig gemacht werden. So ist nicht bekannt, wo (sicher in Berlin) Bolle geboren wurde, welche Schule er besuchte und welche berufliche Tätigkeit er zunächst ausübte. Die Spurensuche wurde erst von 1887 an erfolgreich. Bolle war zu dieser Zeit Kaufmann und erwarb am 4.10. durch Eintragung beim Berliner Königlichen Amtsgericht I das Handelsgeschäft C. A. Federhart Nachfolger, Inhaber Siegfried Zielinsky. In der 1865 gegründeten Fabrik mit Sitz in Berlin S, Alte Jacobstr. 70, wurden Luxus-Kartonagen und Bonbonnieren hergestellt, Spezialitäten waren Neuheiten in Fantasie- und Galanterie-Artikeln, auch ein Atelier für Attrappen und Theater-Requisiten war vorhanden. Es wurde zudem exportiert. Bolle, in Berlin SO, Michaelkirchstraße 31 wohnhaft, war mithin nicht unvermögend. Bereits ein Jahr später, am 20.9.1888, trat der Kaufmann Noddy Alfred Franck in Bolles Handelsgeschäft als Gesellschafter ein. Für die nun entstandene offene Handelsgesellschaft (OHG) war nur Bolle vertretungsberechtigt. Die Fabrikation von Neuheiten für Confiserie, Parfümerie, Galanterie, Luxus-Kartonagen, Bonbonnieren und Fantasie-Artikeln blieb am bisherigen Standort ähnlich, auch der Export. Dies ist bis 1891 belegt, während sich in den Folgejahren Bolles berufliche Aktivitäten nicht eindeutig klären lassen.

Am 3.8.1897 trat Kaufmann Bolle, in Berlin W, Winterfeldtstraße 30 a wohnhaft, als Gesellschafter in das Handelsgeschäft des Verlagsbuchhändlers Carl Franz Regenhardt ein. Bei der Firma in Berlin W, Kurfürstenstraße 37, handelte es sich auch um eine Druckerei. Als im Sommer 1900 Regenhardt verstarb, wurde die OHG aufgelöst, Bolle schied aus der Firma nach der Liquidation und einem rechtsgültigen Vergleich aus.

In der Folgezeit arbeitete Bolle, jetzt wohnhaft in Wilmersdorf, Berliner Straße 23, in der Buchhandlung für Architektur und Kunstgewerbe in Berlin SW, Anhaltstraße 16/17, deren Inhaber (ausschließlich) Bruno Hessling war. Allerdings besaß Bolle hier Prokura, die wohl im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus der Firma am 28.11.1904 erlosch.

Für Oscar Bolle begann nun offenbar mit der Aufgabe seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit ein neuer Lebensabschnitt. Bis zu seinem Lebensende gab er jetzt für seine Person als Beruf stets „Schriftsteller“ an. Einzig im Jahre 1914 bezeichnete er sich – wohl nicht ganz unbescheiden – als „Privat-Gelehrter“. Bolle machte sich unzählige Male auf, die märkische Landschaft zu entdecken. Ob Kiefernwälder, Seen, Schilf- und Sumpflandschaften, die eigenartigen Reize von Havel und Spree, nichts blieb ihm verborgen. Er wusste auch „die lieben, traulichen märkischen Städtchen mit ihren alten Türmen und Mauerwehren, dem ´Hansazeichen´ mitunter noch auf Tor oder Rathausgiebel“ zu schätzen, so seine eigenen Worte. Bolle nahm auf seinen Touren durch die Mark Brandenburg stets eine Foto-Ausrüstung mit. Das verwundert nicht, wenn man weiß, das er 1902, 1903 (?) und 1904 bei der Photographischen Gesellschaft Charlottenburg, 1905 – 1906 beim Camera-Club Charlottenburg, 1907 bei der Photographischen Gesellschaft Charlottenburg (jetzt „Liebhaberverein“) und 1909 – 1911 bei der Photographischen Gesellschaft („Amateurverein“) jeweils Vorsitzender war. Vielleicht bestand beim erstgenannten Verein ja auch von 1902 – 1911 eine durchgehende Mitgliedschaft.

Die vielen Entdeckungstouren, das hier angeeignete Wissen und die zahlreichen Fotos führten dazu, dass Bolle als Vorsitzender der „Vereinigung zur Förderung des Interesses an märkischer Natur und Heimat“ mit regelmäßigen Vortragsabenden begann. Es entstanden von September/Oktober eines Jahres bis etwa Mai des Folgejahres regelrechte „Winterzyklen“, in denen Bolle in Sälen (z. B. im Hörsaal des königlichen Kunstgewerbemuseums, im großer Konzertsaal des Hotels „Deutscher Hof“ oder im Festsaal des Märkischen Museums) gut besuchte Vorträge hielt und hierbei 100 – 120 Lichtbilder zeigte. Die Farbfotografie setzte sich ja erst in den 1930er-Jahren langsam durch. Deshalb waren alle großformatigen Lichtbilder, die gezeigt wurden, noch handkoloriert. „Die vorgeführten farbigen Lichtbilder, die sich durch wunderbare Plastik auszeichneten, fanden das Entzücken aller, so wurde dem Vortragenden reicher Beifall zuteil.“ So berichtete im November 1911 eine Zeitung über eine Veranstaltung. Bolles Bilder sind übrigens erhalten geblieben. Sie gehören zum Bestand des Stadtmuseums Berlin.

Für die Vorträge war anfangs ein Eintritt von weniger als 1 Mark zu bezahlen, später inflationsbedingt schon (April 1922) 5 bzw. 6 Mark. Eintrittskarten und auch Prospekte für alle Vorträge in einem Winterzyklus gab es u. a. auch im Kaufhaus Wertheim. Zum Zeitungsbericht über 10 Jahre „Märkische Vorträge“ vom Januar 1917 ist zu bemerken, dass Bolle schon vor 1907 entsprechende Veranstaltungen durchführte. Als Beispiel sei der 23.2.1906 genannt, als über „Die Havel (von der Quelle bis zur Mündung)“ berichtet und 105 Lichtbilder gezeigt wurden.

Es folgt eine unvollständige Aufstellung von Themen, die Bolle für seine „Märkischen Vorträge“ in Wort und Bild verwendete und die ihn in weiten Kreisen Berlins bekannt machten:

Die Havel (von der Quelle bis zur Mündung) – Die Spree, eine Wanderung von der Quelle bis zur Mündung – Märkischer Sand – Über die Märkische Schweiz in die Neumark – Land und Leute in der Uckermark – Maientage der Ruppiner Schweiz und die Landschaft der Prignitz – Berlin einst und heute – Wanderung über Buckow, Freienwalde, Schlaubetal – Fließ- und Seeidyllen bei Berlin – Märkische Landschaften am Großschiffahrtswege Berlin-Stettin – Vor den Toren Berlins.

Über die eigentlichen „Märkischen Vorträge“ hinaus besuchte Bolle zudem spezielle Veranstaltungen. Am 18.1.1910 sprach er vor dem „Ausschuss der Aquarien- und Terrarienvereine“. Der Vortragsabend stand unter dem Motto „Märkischer Sand, malerische Wanderungen in die Umgebung Berlins (zur Kenntnis von Geologie, Baugeschichte und Landschaft der Mark)“, 105 farbenprächtige Bilder wurden gezeigt. Eintritt 20 Pfennig. Ein weiteres Beispiel: Am 26. März 1914 fand im großen Hörsaal der Königlich landwirtschaftlichen Hochschule in der Invalidenstraße 42 ein Vortrag Bolles zum Thema „Landschaftliches und gärtnerisches aus der Mark Brandenburg“ mit 100 Lichtbilderaufnahmen „in natürlichen Farben“ statt. Über 200 Mitglieder und Gäste der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft folgten ihm „mit lebhaftestem Interesse“.

Bolle, der seit 1912 nach vielen Umzügen bis zu seinem Tod in Wilmersdorf, Wilhelmsaue 34 wohnte, bezeichnete sich ja selbst auch als Schriftsteller. Artikel und Broschüren heimatkundlichen Inhalts sind bekannt, so seine Zeitungsbeiträge über „Berliner Weihnacht von 50 Jahren“ (1921) und „Karneval in Alt-Berlin“ (1923). Rund 100 Seiten umfasst seine 1912 herausgegebene Broschüre „Die Märkischen Sommerfrischen“, die von A wie Alt-Buchhorst bis Z wie Züllichau eine Vielzahl an Ortschaften aufführt, die er für einen Besuch als bereits anerkannte oder auch künftig denkbare „Sommerfrischen“ empfahl. Wenn er hier allerdings auch Tegel mit aufführte, kann das etwas zwiespältig gesehen werden. Der Ort hatte ja im Dezember 1910 schon 22442 Einwohner, ein Gemeinde-Gaswerk, ein Städtisches Gaswerk (das größte Europas) und das große Borsigwerk. Weitere schriftstellerische Werke Bolles mag es durchaus geben, ließen sich aber für den Schreiber dieser Zeilen bisher nicht ermitteln.

Seine „Märkischen Vorträge“ bot Bolle zumindest bis 1924 an. 1927 berichteten Berliner Zeitungen über seinen 70. Geburtstag (am 16.6.). „Tausende von Berlinern werden sich bei diesem Anlass mit vieler Freude seiner Vortragsabende erinnern, die stets vor dicht gefülltem Saale stattfanden und das gebildete Publikum aller Gesellschaftskreise anzogen“, so die Berliner Börsen-Zeitung vom 11.6.1926. Oscar Bolle verstarb 1929.

 

Sein Vater starb im Januar 1933, seine Mutter ging 82-jährig 1942 im Ghetto Theresienstadt  – bald nach ihrer Einlieferung – an Unterernährung und Krankheiten zugrunde.

Georg Blumenthal (1888-1964) erhielt 1912 seine Approbation als Arzt, bereits seit 1911 arbeitete er am Robert Koch-Institut (RKI). Er bezeichnete sich selbst als „Christ von Geburt an“, gleichwohl trat er später aus der Jüdischen Gemeinde aus. Er gehörte nach eigenen Angaben vor 1933 einer Freimaurerloge an. 1931 heiratete er die Nichtjüdin Anna Agnes Heinrich. Sie war Sprechstundenhilfe bei ihrem Ehemann.

Nach einem Foto aus seinem Todesjahr 1964. Quelle: Erinnerungszeichen, Museum im Robert Koch-Institut

Dr. Blumenthal gelang es, das komplizierte Wassermannsche Verfahren zum Nachweis von Tuberkulose mit Tierblut wesentlich zu vereinfachen – ohne Tierblut.

Schon 1933 wurde Dr. Blumenthal die Kassenzulassung entzogen, wogegen er Beschwerde einlegte – mit Erfolg; seine Tätigkeit in einem Seuchen-Lazarett wurde ihm als „Frontkämpfereinsatz“ anerkannt. Seine 1932 eingereichte Habilitationsschrift lehnte  die Universität Berlin 1933 ab, obwohl die Fakultät sie bereits positiv beurteilt hatte. 1942 musste das Ehepaar Blumenthal auf Anordnung der Gestapo und nach Denunziation durch eine Parteigenossin seine Wohnung in der Oldenburger Straße 47 verlassen; auch nach dem Krieg lebte die Denunziantin unbehelligt in der Blumenthalschen Wohnung. Erst vier Wochen später erhielten die Blumenthals eine „Judenwohnung“.

Immer wieder erging an Georg Blumenthal die Aufforderung, sich bei der Gestapo zu melden; ein Polizeioberleutnant warnte ihn jedes Mal vor dem Auftauchen der Gestapo bei ihm zu Hause. Er „… beobachtete nicht ohne geheime Schadenfreude, wie Himmlers Schergen vergeblich nach ihm fahndeten.“ Für den 30. Januar 1944 war er wieder zur Gestapo vorgeladen; aber am gleichen Tag wurde die Wohnung des Ehepaares im Hansaviertel ausgebombt. Da sich Georg Blumenthal extrem gefährdet sah,  beschlossen er und seine Frau unterzutauchen. Er verfügte über einen Wehrpass, was ihm das Untertauchen erleichterte – er hatte immerhin ein Papier, mit dem er sich notfalls ausweisen konnte. 17 Tage übernachteten sie in Bunkern. Im März zogen sie nach Kähme, Kreis Birnbaum (Warthegau), heute Polen. Sie wohnten bei einem Polen und waren polizeilich gemeldet. Georg Blumenthal behandelte Polen, die von deutschen Ärzten nicht versorgt wurden. Aber dann bekam der Vermieter Angst, einen „Volljuden“ aufgenommen zu haben. Georg Blumenthal ging daher im April 1944 nach Berlin zurück, während seine Frau weiter in Kähme bei Bauern arbeitete, auch um ihren Mann versorgen zu können. Er nutzte nun die gemeinsame Laube auf der Insel Maienwerder  im Tegeler See, war aber nicht polizeilich gemeldet und verfügte auch nicht über Lebensmittelkarten. Im Herbst kam Frau Blumenthal ebenfalls auf die Insel Maienwerder, ohne sich polizeilich anzumelden, um ihren Mann nicht zu gefährden. Im April 1945 wurden sie befreit. Ein nach dem Krieg gestellter Antrag auf Geldentschädigung wurde abgelehnt, da er „nicht begründet sei“.

Dr. Blumenthal arbeitete 20 Jahre lang als Assistent am Serologischen Institut des Robert Koch-Instituts, später als Ober-Assistent, ab 1928 auch als selbständiger Augenarzt, sowie als Dozent für Bakteriologie und Immunologie an der Berliner Universität. Ab 1939 wurde ihm die Ausübung der Arzttätigkeit untersagt, nur jüdische Menschen durfte er als „Augenbehandler“ medizinisch versorgen.

Bei seinem Antrag, als Opfer des Faschismus anerkannt zu werden, gab Georg Blumenthal als Zeugen auch „Ernst Biernatzki, Dienststellenleiter, Saatwinkel“ an – mit dem handschriftlichen Zusatz „echter Antifaschist“ und „Illegaler“. Biernatzki bestätigte dies durch seine eidesstattliche Versicherung.

Blick vom Fährhaus Saatwinkel auf Maienwerder – von Lienhard Schulz – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15512085

In seinem Lebenslauf für den Antrag beschreibt Georg Blumenthal die Lebensumstände auf Maienwerder: „Wir ernährten uns … durch Fangen von Kaninchen und bekamen durch die Mildtätigkeit fremder Menschen Kartoffeln, Kohlrüben, von Zeit zu Zeit Brot, einmal sogar Margarine. Butter fehlte uns leider völlig. Das Abhören des englischen Senders, der die Hoffnung auf ein baldiges Ende wachhielt, mit einem selbstverfertigten Radio hielt uns aufrecht und ließ uns auch die grimmigste Kälte vergessen, wenn wir am Morgen nur 2 Grad Kälte in unserer Laube hatten.“ Die Wasserpumpe umwickelte er mit Stroh, um sie im Winter vor der Kälte zu schützen. Auch als Bunkerbauer und „Luftschutzwart“ musste er sich betätigen, da auf Valentinswerder im Gegensatz zur allgemeinen Verdunklungspflicht Lichter brannten, so sollten die Bomben vom Rüstungsbetrieb Rheinmetall-Borsig auf die Inseln im Tegeler See gelenkt werden. Auch die Blumenthalsche Laube wurde mehrfach durch Bombentreffer beschädigt. „Im Frühjahr bekam unsere Insel Zuzug von entflohenen Soldaten und Volkssturmleuten, die von uns untergebracht und mit den neuesten Nachrichten über den Vormarsch unserer Befreier versorgt wurden, eine Betreuung, die wir schließlich bis zum Russeneinmarsch auch auf die Nachbarinsel Valentinswerder ausdehnen konnten.“

Georg Blumenthal stellte sich nach seiner Befreiung sofort dem Bürgermeister als Arzt zur Verfügung; er wurde am 23. Januar 1946 vom Magistrat (Abteilung Opfer der Nürnberger Gesetzgebung) als Opfer des Faschismus anerkannt.

1946 erhielt er wieder seine Zulassung als Augenarzt und durfte die serologische Abteilung des RKI leiten; er wollte nun seine 1933 zwangsweise unterbrochene Arbeit an der Serodiagnostik (Blutuntersuchung) fortsetzen. Ein Jahr später wurde er Professor an der Berliner Universität. „Er gehörte zu den Mitbegründern der Fachzeitschrift „Blut“ (heute: Annals of Hematology)…“ 1956 erhielt er das „Große Verdienstkreuz zum Bundesverdienstorden“. https://erinnerungszeichen-rki.de/georg-blumenthal/

Georg Blumenthal ließ sich 1958/1959  in der Händelallee 67 im Berliner Hansaviertel von den Architekten Klaus Kirsten und Heinz Nather ein Haus planen und errichten. Obwohl also erst nach der Internationalen Bauausstellung INTERBAU 1957 gebaut, genehmigten Otto Bartning und der leitende Ausschuss der Interbau die Pläne, auch wird das Haus in der Denkmalliste zur Interbau 1957 aufgeführt.

Haus Blumenthal, Händelallee 67, Hansa-Viertel, 1959. Quelle: https://www.h67.de/

1961 konnte er seine 50-jährige Zugehörigkeit zum Robert Koch-Institut, das Goldene Jubiläum, feiern. „Das kinderlose Ehepaar hatte testamentarisch die Gründung der Georg und Agnes Blumenthal-Stiftung verfügt, aus deren Mitteln bis heute die serologische Forschung am RKI gefördert wird.“ https://erinnerungszeichen-rki.de/georg-blumenthal/

  • Blumenthal, Georg, Auskünfte auf dem Fragebogen zum Antrag auf Anerkennung als Opfer des Faschismus, inklusive Lebenslauf, Archiv Centrum Judaicum, 4.1, Nr. 204
  • Stolperstein für Georg Blumenthals Mutter Rosa: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/5172
  • Robert Koch-Institut: Podcast zu Georg Blumenthal in der Reihe Erinnerungszeichen des Museums im Robert Koch-Instituts, Folge 1: https://erinnerungszeichen-rki.de/georg-blumenthal/
  • Maassen, W.: Georg Blumenthal in memoriam (1964). Blut 10 (3): 97-98
  • „Der Robinson vom Tegeler See“, Zeitungsbericht, ca. April 1946, nach einem Interview mit Prof. Blumenthal im historischen Robert-Koch-Saal der Charité, undatierte Kopie, Archiv M. Schröder.
  • Schwoch Rebecca: Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945. Frankfurt am Main 2018
  • Uhlig, Katja – mündliche Informationen

Meinhard Schröder