Den „Tegeler Grafen Monte Christo“ kannte jeder Dorfbewohner

Im Sommer 1874 tauchte er plötzlich in Tegel auf, jener „unbegreifliche Mann mit der unerschöpflichen Kasse“, wie es eine Berliner Zeitung damals formulierte. Er mietete eine Sommerwohnung, wie es zu dieser Zeit viele Berliner für Tage oder gar Wochen taten. Doch der junge Mann  – er war gerade einmal 24 Jahre alt – fiel schnell auf, weil er die Ferienwohnung herrlich einrichtete. Damit nicht genug. Der „Tegeler Graf Monte Christo“, wie ihn die zuvor erwähnte Zeitung bezeichnete, pachtete zudem in Tegel gleich für 10 Jahre ein Grundstück. Auf diesem wurden Pferde- und Hundeställe errichtet, in denen zwei Ponys als Wagenpferde und drei elegante Reitpferde („vorzügliches Vollblut“) sowie eine ganze Meute von 40 Hunden untergebracht wurden. Allein ein Hund soll einen durchschnittlichen Wert von 600 Mark besessen haben.

Die „eitel Pracht vornehmer Passionen“ benötigte natürlich auch entsprechendes Personal. Kutscher, Reitknecht, Stalljunge, Piqueur (Jagdreiter) und Hundejungen durften nicht fehlen.
Der Lebemann aus Berlin überlegte auch, wie er den Marstall und Rüdenzwinger vor einer denkbaren Feuergefahr schützen könnte. Kurzer Hand gründete „Monte Christo“ in Tegel eine Feuerwehr und stattete diese mit allen nötigen Gerätschaften aus. Aus finanzieller Sicht war das kein Problem. Nur einige lumpige tausend Taler waren erforderlich.

Der unverheiratete Lebemann hielt sich viel in Berlin auf. Wenn er hingegen die Reize seiner Tegeler Sommerwohnung mit anderen zusammen genießen wollte, fand dies im Umgang mit schönen Frauen statt. Allerdings ist auch überliefert, dass die eine oder andere schöne Frau nicht selten bereits in anderer Gesellschaft gesehen wurde.

So versetzte „Monte Christo“ die Tegeler Dorfbewohner vielfach in Erstaunen. In der ganzen Gemeinde war er bekannt.

Blicken wir nun nach Berlin. Unter den Linden befand sich damals das Bankhaus der Herren Meyer und Cohn. Es löste hauptsächlich Coupons der Pfandbriefe der Ostpreußischen General-Landschaft (Immobilienkreditanstalten für den adeligen Grundbesitz) ein und rechnete dies halbjährlich ab. Im Bankhaus war unter anderem mit einem bescheidenen Jahresgehalt von 1500 Mark ein gewisser Emil Selmer als engagierter Buchhalter tätig. Der 24-Jährige, eine elegante Erscheinung, fiel durch unermüdlichen Fleiß, durch gefälliges und einnehmendes Wesen und durch Pünktlichkeit auf. Er hatte das Vertrauen und die Freundschaft aller Personen erworben, die im Bankhaus arbeiteten. Selmers Aufgabe als Assistent des Kassenbuchhalters bestand darin, eingelöste Coupons ordnungsgemäß zu verbuchen. Die Arbeit erledigte er mit Umsicht. So hatte der Kassenbuchhalter nach einiger Zeit keine Bedenken, Selmer die Kassenschlüssel zu überlassen, wenn er sich selbst zum Mittagessen begab. Immerhin konnte damit zu jeder Zeit ein Couponwechsel erfolgen.

Im Oktober 1875 fand in dem Bankhaus eine Generalrevision des Fondbestandes statt. Dabei wurde festgestellt, dass vom Couponbestand der Pfandbriefe eine Summe von 81097,90 Mark fehlte. Alles Mögliche wurde unternommen, um das Manko aufzuklären. Dabei fiel der Verdacht auf Selmer. Es folgte seine Verhaftung.

Seit dieser Zeit tauchte der „Tegeler Monte Christo“ nicht mehr auf. Als Leser dieser Zeilen werden Sie längst geahnt haben, dass es sich bei „Monte Christo“ und Selmer um ein und dieselbe Person handelte.

Bereits sechs Wochen nach seiner Verhaftung musste sich Selmer am 1.12.1875 vor der Fünften Deputation des Berliner Stadtgerichts für seine Taten verantworten. Dem Strafrichter gestand er unumwunden, die große Summe seit rund zwei Jahren in Einzelbeträgen von 200 – 800 Talern zu sich gesteckt zu haben. Energisch bestritt er, für seine Freundinnen 600 Mark wöchentlich ausgegeben zu haben. Er verwies auch auf den guten Zweck, Geld für die Gründung der Tegeler Feuerwehr verwendet zu haben. Zudem wollte er ja das veruntreute Geld im Laufe der Zeit durch „pekuniäre (geldliche) Ergebnisse der Hundezucht“ heimlich wieder zurück zahlen. Schließlich protestierte er, die Ponys nicht zum Vergnügen, sondern zum Herbeischaffen des Futters für die 40 Hunde gehalten zu haben.

Die königliche Staatsanwaltschaft konnte Selmer nicht überzeugen. Sie sah vielmehr wiederholte Diebstähle, verknüpft mit schwerem Vertrauensbruch, und beantragte eine Gefängnisstrafe von 6 Jahren und 6 Jahre Ehrverlust. Der Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Holthoff, bezweifelte, dass hier Diebstahl vorlag. Vielmehr wäre Unterschlagung erfolgt. Andererseits wollte er diese Frage nicht weiter verfolgen, sondern plädierte für fortgesetzten (also keinen wiederholten) Diebstahl. Er beantragte, durch das Geständnis mildernde Umstände zu sehen und verwies auch darauf, dass dem Angeklagten die Ausführung der Vergehen so leicht gemacht wurde.

Das hohe Gericht verurteilte Selmer dann doch wegen wiederholten Diebstahls zu 6 Jahren Gefängnis, jedoch nur zu 5 Jahren Ehrverlust. Als der Angeklagte den Urteilsspruch vernahm, zuckte er heftig zusammen, Tränen stürzten nur so aus seinen Augen.

Leider ist nicht überliefert, wie die Tegeler auf das Urteil reagierten, und wie in der Gemeinde das aufgelöst wurde, was der nun Verurteilten geschaffen hatte. Die Feuerwehr hatte jedenfalls keinen Bestand. Erst am 18.9.1890 wurde in Tegel eine freiwillige Feuerwehr (neu) gegründet.

Gerhard Völzmann

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert