Die Fahrradbeförderung im Vorortzug nach Tegel im Jahre 1898

Wer in der heutigen Zeit die U-Bahn, S-Bahn oder den Regionalzug besteigt und ein Fahrrad mitführt, hat keine Probleme – wenn der Zug nicht gerade überfüllt ist oder zu viel Gleichgesinnte ihr Rad unterbringen wollen. Wie umständlich und ärgerlich hingegen eine Beförderung des Fahrrades im Jahre 1898 (5 Jahre nach Eröffnung der Bahnstrecke) im Vorortverkehr Berlin – Tegel – Kremmen war, verrät ein Blick in die ab 1.9. d. J. erlassene Vorschrift der Königlichen Eisenbahndirektion Berlin.
Die (natürlich unverpackten!) Fahrräder mussten „aufgegeben“ werden. Der Beförderungspreis betrug unabhängig von der Entfernung auf der genannten Strecke 50 Pfennig. Fahrtunterbrechungen waren nicht gestattet. Am Fahrkartenschalter wurde die Fahrradkarte gelöst. Nach dem Kauf der Fahrradkarte, spätestens aber 15 Minuten vor Abgang des zu benutzenden Zuges, musste der Radfahrer sein Rad zur Gepäckabfertigungsstelle bringen. Hier wurde es mit dem Namen des Zielbahnhofes beklebt. Die „Laterne“ des Rades und eventuelles Gepäck musste der Besitzer abnehmen. Nur die Satteltasche durfte am Gefährt verbleiben. Natürlich musste der Radler sein Fahrrad dann selbst zum Bahnsteig bringen, und zwar dorthin, wo der Gepäckwagen halten wird. Immerhin war es gestattet, auf dem Weg zum Bahnsteig den Gepäckaufzug zu benutzen, jedoch „ohne Verbindlichkeit der Eisenbahn“. Dienstliche Gründe (z. B. starker Andrang) durften der Aufzugsbenutzung nicht entgegenstehen. Durch die Aufzugsnutzung entfiel nicht etwa die Pflicht, das Rad auf dem Bahnsteig bis in Höhe des Gepäckwagens zu bringen.

Hier wurde das Rad von einem Bediensteten der Eisenbahn gegen Aushändigung einer Marke übernommen. „Die Annahme der Marke ersetzt das Anerkenntnis des Reisenden über das Fehlen der Verpackung“, hieß es damals. Entsprechend stand auch auf den Marken: „Unverpackt, §§ 34 und 58 der Verkehrsordnung.“ Die Bahn haftete auch nicht für Beschädigungen der so abgefertigten Räder.

Bei einem Wagenwechsel, also beim Übergang von einem zum anderen Zug, musste der Radfahrer sein Rad vom bisherigen zum neuen Packwagen selbst befördern. Die Fahrradkarten wie auch die Fahrtausweise waren auf der Strecke Berlin – Tegel – Kremmen dem Zugpersonal zum Durchlochen vorzuzeigen und beim Verlassen des Zuges bzw. des Bahnsteigs abzugeben. Das Fahrrad wurde nur gegen Rückgabe der Marke wieder ausgehändigt. Fahrräder waren von einer Beförderung als Expressgut ausgeschlossen.
So also das Procedere einer Fahrradbeförderung bei der Kremmener Bahn im Jahre 1898. Dabei richtete sich der Unmut der Radfahrer nicht nur gegen die Art und Weise der Aufgabe, Beförderung und Abholung des Rades. Die Räder wurden auch beim Ein- und Ausladen oft beschädigt. Zudem waren es aus ihrer Sicht auch berechtigte Wünsche, wenigstens im Vorortverkehr von Berlin eine Ausnahme vom 50 Pfg.-Tarif zu erhalten. Umgekehrt bemängelte die Eisenbahnverwaltung Betriebsunregelmäßigkeiten. Damit waren insbesondere Zugverspätungen gemeint, die nicht selten durch das Ver- und Entladen von Fahrrädern entstanden.

Liest man denn in den höheren Regionen keine Zeitungen, die den Ruf von tausenden der Radfahrer nach Individualisirung der Bestimmungen über die Fahrradbeförderung wiedergegeben haben? Eine Verkehrsverteuerung und Erschwerung dieser Art unter dem Zeichen des Verkehrs! Hoffentlich lassen sich die vielen Tausende, die ihr Rad zu Geschäfts- und Vergnügungszwecken gebrauchen, nicht abhalten, so lange auf bequemere Beförderung des Rades – es braucht doch nur einen ganz gewöhnlichen Pack- und keinen Salonwagen – zu dringen, bis sie erhört werden. Diese Zeilen schrieb zur damaligen Zeit eine Berliner Zeitung. Übrigens gab es 1898 in Berlin etwa 50000 radfahrende Personen. Diese Zahl ist durch Fahrradzählungen überliefert. Der Kurfürstendamm war damals mit 600 Radlern pro Stunde (!) zumindest sonntags die am meisten benutzte Straße. Ziel dieser Radfahrer war zumeist das Ausflugsgebiet Grunewald.

Kommen wir aber noch einmal auf die Kremmener Bahn zurück, vom Volksmund auch „Kachelbahn“ genannt. Neben dem Personenverkehr wurde auf der Strecke zudem Güterverkehr betrieben. Ein Güterzug beförderte in der Frühe u. a. die Berliner Zeitungen nach Velten. Traf durch einen „Bruch an der Lokomotive“ der Güterzug statt um 7 Uhr     erst um 9 Uhr in Velten mit den Zeitungen ein, so bemängelten dies viele Abonnenten. Für die „Veltener Zeitung“ war dies auch ein Grund für einen Beitrag. Ironisch wurde berichtet:

Die Berlin – Kremmener – Bahn scheint wirklich über ein ausgezeichnetes Maschinenmaterial zu verfügen; wüssten wir nicht, dass die chinesische Eisenbahn jetzt erst gebaut werden soll, so könnte man tatsächlich glauben, unsere Lokomotiven seien für 99 Jahre von China gepachtet. Weiter meinte die Zeitung launig, daß, wenn sie auch nur des geringsten Teiles der Unregelmäßigkeit und der Rücksichtslosigkeit gegen die Bedürfnisse des Publikums sich befleißigen würde, wie die Kachelbahn, so hätte sie längst einen wehmütigen Nachruf dem letzten Abonnenten schreiben können.

Gerhard Völzmann