Ein folgenschwerer Unfall an der Straßenbahn-Haltestelle in Tegel im Jahre 1901

Wie bereits in einem anderen heimatkundlichen Rückblick ausgeführt, wurde nach einer landespolizeilichen Abnahme einer neuen Pferdeeisenbahnstrecke nach Te­gel, bei der es „nichts zu erinnern“ gab, am Folgetag durch die Grosse Internationale Pferde-Eisenbahn-Aktien-Gesellschaft die Verbindung nach Tegel festlich eröffnet. Nun gab es also vom 4.6.1881 an eine ohne Unterbrechung von der Weidendammer Brücke bis zum Dorf Tegel verkehrende Pferdeeisenbahn. Die neue Bahn nach Tegel trug nicht unerheblich dazu bei, dass sich an den Pfingstfeiertagen des Jahres 1881 (5. u. 6. Juni) gewaltige Menschenmassen mit den Verkehrsmitteln der verschiedenen Unterneh­men „ins Grüne“ begaben. Neben den Straßenbahnen waren dies auch Droschken, Omni­busse, Torwagen und Kremser. Teilweise wurden selbst Arbeitswagen mit improvisierten Bänken ausgestattet und eingesetzt. Durch die Straßenbahnen wurden am Pfingstsonntag 34.124 Mark und am Pfingstmontag 38.908 Mark eingenommen, an beiden Tagen etwa 500.000 Menschen allein durch die Straßenbahnen befördert. Zur Bewältigung dienten 400 Wagen, 2450 Pferde (davon 150 zur Miete!) und beim Personal 1000 „Beamte“, mit Kutschern, Kondukteuren, Kontrolleuren, Weichenstellern und „Stallbeamten“ seien nur die größten Personengruppen genannt.

Die Strecke von der Tegeler Chaussee (heute Müllerstraße / Scharnweberstraße) bis Tegel ging bereits im Folgejahr durch Kauf in das Eigentum der Grossen Berliner Pferde-Eisenbahn-Aktien-Gesellschaft über. „Damit sind sämtliche Hindernisse gehoben, die der Einrichtung einer direkten Linie Weidendammer Brücke – Dorf Tegel entgegenstanden. Mit Einführung des Sommer-Fahrplans wird diese Linie in Betrieb gesetzt werden.“ So berichtete eine Zeitung am 13.4.1882.

Am 3.6.1891 fand aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums der Eröffnung der Pferdeeisen­bahn nach Tegel eine Feier im Gesellschaftshaus „Zum Leydecker“ statt. Etwa 70 Perso­nen vergnügten sich bis 3 Uhr morgens.

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Die Berliner Straße in Tegel (Blickrichtung Schloßstraße) um 1905 mit einer „Kurbel“ der Berliner Straßenbahn aus der Zeit um 1924 (Fotomontage)

Eine Veranstaltung aus Anlass des 20. Jahrestages der Einweihung des Straßenbahnverkehrs nach Tegel war nicht vor-gesehen. Vielmehr erinnerte am 2.6.1901 ein folgenschwerer Zusam-menstoß zweier Straßen-bahnzüge auf fatale Weise zumindest indirekt an den vor zwei Jahrzehnten aufgenommenen Straßenbahnbetrieb. Was war an diesem Sonntag geschehen?

Unzählige Berliner verbrachten den Sommertag in der Umgebung der Großstadt. So hatten sich noch abends um 10 Uhr etwa 3000 Personen (!) an der Endhaltestelle der Straßenbahn in Tegel versammelt. Sie harrten ihrer Rückbeförderung nach Berlin und stürmten jeden einlaufenden Straßenbahnzug. An der Haltestelle stand bereits ein Motorwagen mit zwei angehängten Wagen, alle Sitzplätze waren besetzt. Der Straßenbahnzug war zur Abfahrt bereit. Ein zwischenzeitlich eingetroffener zweiter Zug (der Motorwagen hatte die Nr. 1827), ebenfalls mit zwei Anhängern, hatte schon umrangiert. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Straßenbahn damals noch nicht über die Hauptstraße (Alt-Tegel), Treskowstraße und Schlieperstraße wieder nach Berlin zurückfuhr. Der Führer des zweiten Wagens hatte gerade nach Erhalt des entsprechenden Signals den Stromhebel auf „mäßige Kraft“ gestellt, um in die Abfahrtsweiche hineinzufahren. In diesem Augenblick stürmte das wartende Publikum den Zug. Innerhalb weniger Sekunden standen auf der vorderen Plattform des Motorwagens 14 Personen. Der Wagenführer wurde zur Seite ge­stoßen und der Hebel des Stromgebers dadurch auf „Kraft 9“, also auf die größte Stromstärke geschaltet. Zwar war der Wagenführer bemüht, den Hebel wieder zurückzuziehen, doch sein Oberkörper wurde durch die drängelnden Menschen über die Wand der Plattform gedrückt. straßenbahnEr konnte die Bremsvorrichtung des Wagens nicht betätigen. Mit „unheimlicher Geschwindigkeit“ fuhr der Straßenbahnzug nun auf den vor ihm haltenden Zug „hinauf“. Nun erkannten auch die Fahrgäste die Gefahr und sprangen teilweise von der Plattform ab. Endlich gelang es auch dem Wagenführer, den Strom abzuschalten. Doch es war bereits zu spät. Mit „furchtbarer Gewalt“ erfolgte der Zusam­menstoß der ja insgesamt sechs Straßenbahnwagen. Beide Anhänger des vorderen Zu­ges wurden förmlich ineinander gedrängt, alle Wagen erheblich beschädigt.

Durch den Unfall wurden zehn Fahrgäste verletzt. Drei von ihnen, es waren Kaufleute, hat­ten schwere Verletzungen, zwei trugen Armbrüche und einer einen Hüftknochenbruch da­von. Sie wurden zum Paul-Gerhardt-Stift (Müllerstraße 72/73) gebracht. Sieben weitere Passagiere hatten sich durch Glassplitter verletzt.