Einst zur Winterzeit in Tegel (Teil 1)

Der Winter war früher in Tegel strenger. Unter dieser Überschrift berichtete im April 1936 die Nordberliner Tagespost über „Mutter Senge“. Die damals 79-Jährige wohnte im Dachgeschoss des Hauses in der Hauptstraße 8 (heute wäre dies Alt-Tegel 20), während sich im Erdgeschoss eine Sanitätswache des Roten Kreuzes befand. Witwe E. Senge hatte ihr gesamtes Leben ausschließlich in Tegel verbracht. Damals hatten wir, weil von der Berliner Luft noch nichts zu merken war, noch einen richtigen Winter, da war der See regelmäßig zugefroren, oft sogar bis in den April hinein. Soweit wir als Kinder Zeit hatten, tummelten wir uns lustig auf dem Eis und sahen den fremden Schlittschuhläufern zu, die auf gefegter Bahn von Spandau herüberkamen und bei Marzahn im Dorfkrug Kaffee tranken. Nachts verursachte das berstende Eis oft ein solches Donnergetöse, dass man kaum schlafen konnte. So die Erinnerungen der alten Frau in dem Zeitungsartikel.

Doch war das wirklich so? Blicken wir hierzu in das 19. Jahrhundert. Es gibt wohl aus dieser Zeit keine Tegeler Wetteraufzeichnungen, wohl aber solche aus Berlin. Beobachtungen aus den Jahren 1849 – 1864 sagen folgendes aus:

  • Monat Januar über 50 durchschnittlich 1,44 Tage, höchste Zahl 5 Tage.
  • Monat Februar über 50 durchschnittlich 2,15 Tage, höchste Zahl 5 Tage.
  • Frostwechsel durchschnittlich 5,27 mal, höchste Zahl 11 mal, ge- ringste Zahl 0 mal.
  • Durchschnitt der höchsten Tagesmittel 7,370, Monatsmittel 0,530, Durchschnitt der niedrigsten Tagesmittel -7,690.
  • Der erster Frost trat durchschnittlich am 3. November, frühestens am 13. Oktober und spätestens am 16. November auf. Der letzter Frost wurde durchschnittlich am 17. April, frühestens am 31. März und spätestens am 7. Mai festgestellt.
  • Zu beachten ist, dass damals die Temperaturen noch in Reaumur gemessen wurden (0,80 Reaumur = 10 Celsius).

Genug der Daten und Zahlen. Kommen wir nun zu Freud und Leid, die sich den Bewohnern Berlins und des Dörfchens Tegel in der Winterzeit des vorletzten Jahrhunderts boten. Saatwinkel war bereits zu dieser Zeit ein bei den Berlinern beliebtes Ausflugsziel. „Cafetier“ Schmock bewirtschaftete hier das Restaurant Blumeshof. Das Nachbargrundstück des Tabagisten Lange hatte er 1851 hinzugekauft und damit „den eigentlichen Saatwinkel“ besessen. Mit Neptuns- und Anglerfesten, Wasserfeuerwerken und anderen Veranstaltungen lockte er viele Berliner an. Dies geschah auch im Winter. Als im Januar 1857 das Petitpierre´sche1 Normalthermometer 5 ½ Grad Kälte anzeigte und die Gewässer in und um Berlin zugefroren waren, warb Schmock am 11.1. d. J. mit folgender Anzeige:

Die größte noch nicht dagewesene Eisbahn
Nach dem Saatwinkel und von dort nach Spandau und Tegel, empfehle ich einem geehrten Publikum zur geneigten Benutzung. Der Aufgang ist nicht vor, sondern hinter dem Hamburger Bahnhofe; für Speisen und Getränke werden die Herren May und Schmock im Saatwinkel bestens sorgen. C. Schmock

Zwei Tage später war nur noch ½ Grad Kälte und dichter Nebel, der von Tauwetter über frischen Schnee bis zu Eis alles vermuten ließ. „Auf dem neuen Canal“, so schrieb eine Zeitung am 14.1., „kann man von der Gegend des Hamburger Bahnhofes aus bis nach Spandau Schlittschuh laufen. Und ein geübter Schlittschuhläufer hält bekanntlich eine ziemliche Strecke gleichen Schritt mit einem trabenden Pferde, zumal wenn es edle Rosse von so ´langer Erfahrung´ sind, wie die Schweizer neuerdings in Baiern angekauft haben.“

Ein Jahr später verstarb Schmock. Am 7.1.1858 wurde er beerdigt. Zum Begräbnis fand sich eine große Anzahl Berliner ein, die oft hier verkehrten. Da sich auf dem Tegeler See gerade Eis gebildet hatte, schnallten sich einige Personen nach dem Leichenbegängnis Schlittschuhe an und vergnügten sich auf dem See. Besonders tragisch war, das am Abend einer der Schlittschuhläufer, der Kaufmann Hinzpeter, vermisst wurde. Er war in die Nähe einer Luhme2, so die damalige Formulierung, geraten und auf dem Eis eingebrochen. Seine Leiche fand man erst am nächsten Tag.

Mit dem Wintervergnügen 1879/80 war es in Berlin „schwach bestellt“. Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen kannten viele Berliner nur vom „Hörensagen“. Kleine, künstlich gegossene Eisflächen zwischen Häusergrundstücken galten nur als „Surrogat des Eissports“. Die früheren Eisbahnen vom Hamburger Bahnhof nach Saatwinkel, Tegel und Spandau gab es nur noch verkürzt ab Schleuse Plötzensee, also ½ Stunde von Berlin entfernt. Von hier an bot sich aber „der wahre Zauber des Schlittschuhlaufens“, man konnte „mit Eisenbahngeschwindigkeit“ die Landschaft durchfliegen. Ende Januar schien die Sonne auf eine weiße Schneedecke. Vorbei ging es an Haselhorst, rote Dächer leuchteten von Saatwinkel aus. Hier bot sich eine „Wärmestation“ an. Auf dem weiteren Weg nach Tegel „grüßte“ auf dem sonst so stillen See Geschützdonner, gefolgt von gewitterartigem Echo. In Tegel gab es reichlich Gelegenheiten, um Station zu machen. Zurück in Richtung Spandau waren immer mehr dichte Gruppen mit „famosen Piekschlitten“ unterwegs, auf denen Frauen und Kinder saßen. Vom Gasthaus auf Valentinswerder her erklang Tanzmusik. Nach dem letzten Abschnitt auf Schlittschuhen bis Spandau bot sich die Rückfahrt nach Berlin mit der Eisenbahn an. „Drei mal in einem Winter diese Tour erspart einmal Karlsbad“, lautete eine Devise.

Übrigens standen im Winter 1885/86 an der über den Tegeler See führenden Eisbahn Wachtposten, wenn auf dem Artillerie-Schießplatz in der Jungfernheide geschossen wurde. Mit entsprechende Tafeln warnten sie die Passanten auf dem Eis vor einer Annäherung an das Ufer. Immerhin war am 16.2.1886, so die Bahnkontrolleure, in Richtung der Insel Reiswerder eine Granate auf das Eis geflogen und hatte die Eisdecke durchschlagen.

Das Betreten des Eises forderte mit trauriger Regelmäßigkeit Todesopfer, auch wenn teilweise Rettungsapparate segensreich eingesetzt werden konnten. Der Seglerklub „Tegelsee“ hatte in seinem Gründungsjahr 1886 einen solchen Apparat im Spätsommer auf Valentinswerder aufgestellt. Gleich drei Menschenleben konnten dadurch im Februar 1887 an einem Tag gerettet werden. Von einem Verunglückten hieß es, das er 36 Minuten ausgehalten hatte, nachdem er auf dem Eis einbrach.

Besonders gefährliche Stellen der Oberhavel waren die Brücke am Heiligensee und die Wehre nach Spandau zu, der einstigen Kolonie Tegelort gegenüber. Hatte das Eis eine gewöhnliche Stärke von 6-8 Zoll3, dann erreichte es an diesen Stellen nur ½ Zoll. Berüchtigt war in einiger Entfernung von Valentinswerder „Stecherts Loch“4, wo durch Strömung und warme Quellen nur ein leichtes Gefrieren des Wassers einsetzte. Im Januar 1889 brachen hier gleichzeitig zwei Schlittschuhläufer ein. Ein sich zufällig auf Scharfenberg aufhaltender Berliner hörte die Hilfeschreie und rettete die Verunglückten unter eigener Lebensgefahr vor dem Ertrinken. Eine Belohnung von 50 Mark lehnte er ab. Später erhielt er für seine mutige Tat eine Rettungsmedaille.

Soweit der erste Teil des Beitrages „Einst zur Winterzeit in Tegel“. In der Fortsetzung u. a. die Themen Eisfahren mit dem Rennwolf, Pachthöhe und Dauer für Touren-Eisbahnen, Landbriefträger auf dem Eis, ungeheizte Straßenbahnen, Schlitten als Straßenbahnersatz und Eisernte.

1 E. Petitpierre war „Opticus und Mechanicus“ Seiner Majestät des Königs und akademischer Künstler. An seinem Geschäft Unter den Linden 33 war außen ein Riesen-Barometer und Thermometer angebracht.

2 Aufgeschlagene Wasserstelle

3 1 Zoll = 2,54 cm.

4 Zwischen Großem Wall und „Kreuzecke“ gelegen. In den 1840er Jahren soll hier eine Familie Stechert (Vater, Mutter, vier Kinder) eines abends auf einem Schlitten auf der Strecke von Valentinswerder nach Spandau auf dem Eis eingebrochen und dann ertrunken sein.