Neue Stolpersteine in Reinickendorf
Zum Gedenken an die Menschen aus Reinickendorf, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten aus rassistischen, politischen oder anderen Gründen verfolgt und ermordet wurden, sind in unserem Bezirk seit 2003 rund 170 Stolpersteine verlegt worden.
Seit dem 5. Dezember 2017 sind es vier Steine mehr, zwei Steine für jüdische Frauen aus Heiligensee und zwei für homosexuelle Männer. Allen Stolpersteinen gemeinsam ist, dass sie Opfer nationalsozialistischer Willkürakte waren. Gleichwohl ist mit jedem Stein eine andere Lebensgeschichte verbunden, oftmals auch sehr verschiedene Wege der Recherche.
Zum ersten Mal sind am 5. 12. in Reinickendorf Stolpersteine für Homosexuelle verlegt worden. Schon seit geraumer Zeit verfolgt die Reinickendorfer Arbeitsgruppe Stolpersteine die Absicht, Stolpersteine nicht nur wie bisher für jüdische und politische Opfer sowie für Opfer der Euthanasiemorde zu verlegen, sondern den Kreis darüber hinaus auf Homosexuelle sowie Sinti und Roma auszuweiten. Recherchen für diesen Opferkreis gestalten sich jedoch schwierig. Nicht nur dass es bei Sinti und Roma selbst Vorbehalte gegen die Verlegung von Stolpersteinen gibt, weil ins Straßenpflaster eingelassene Steine mit den Füßen getreten und beschmutzt werden könnten. Darüber hinaus ist die Verfolgung von Siniti und Roma jahrzehntelang ausgeblendet und daher bisher wissenschaftlich unzureichend aufgearbeitet worden. Probleme anderer Art liegen bei den verfolgten Homosexuellen vor. Homosexuelle Männer, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebt haben, hätten sich nach dem Krieg mit einem Antrag auf Entschädigung – bei jüdischen und politischen Opfern ergiebige Quellen bei der Erforschung der individuellen Lebensläufe – quasi selbst angezeigt, weil auch nach 1945 Homosexualität in Deutschland strafbar war. Angehörige von ermordeten Homosexuellen zögerten mit Anträgen aus Angst um Rufschädigung oder einfach aus Scham. Quellen sind daher bei dieser Personengruppe in erster Linie Unterlagen, die auf der Strafbarkeit von Homosexualität entstanden sind, d.h. vor allem Strafakten der Gerichte. Da es sich hierbei nicht um von den Opfern oder ihren Angehörigen erstellte Lebensläufe handelt, sondern um Täterakten, mit denen die Ermittlungsbeamten „Sittlichkeitsverbrechen“ nachweisen wollten, ist das Bild der angeklagten Homosexuellen verzerrt und nicht unbedingt wahrheitsgetreu. Bereits die Sprache in diesen Akten ist vorurteilsbelastet. So wird die Tatsache der Homosexualität grundsätzlich als „widernatürliche Unzucht“ bezeichnet, auch wenn es sich um einvernehmliche, freundschaftliche sexuelle Beziehungen zwischen Männern handelte.
Im Fall der beiden homosexuellen Opfer – Herbert Gürtzig und Herbert Schmeisser – erhielt die Arbeitsgruppe die Hinweise über die Ermordung dieser Männer von einem Gesprächs-kreis Homosexualität in der Evangelischen Advent-Zachäus-Kirchengemeinde, deren Vertreter auch an der Stolpersteinverlegung für Herbert Gürtzig und Herbert Schmeisser teilnahmen. Wegen der besonderen Bedeutung der ersten Steinverlegung für Homosexuelle in Reinickendorf fand am Stein für Herbert Gürtzig in der Emmentaler Straße 74 die zentrale Gedenkfeier stellvertretend für alle an diesem Tage zu verlegenden Steine statt. Wie bei allen zentralen Gedenkfeiern aus Anlass von Steinverlegungen wurde die Feier umrahmt von musikalischen Beiträgen. Zusätzlich zur Verlesung der Biographie von Herbert Gürtzig erhielten die Teilnehmer einen Überblick über die Homosexuellengesetzgebung in Deutschland von 1972 bis heute. Dieser liegt auch in einer Kurzfassung gedruckt vor. Der Stolperstein für Herbert Schmeisser wurde an diesem Tage als letzter in der Hennigsdorfer Straße 17 verlegt. Herbert Gürtzig und Herbert Schmeisser waren wegen homosexueller Beziehungen strafrechtlich verfolgt und verurteilt. Beide wurden nach Verbüßung ihrer Strafe nicht freigelassen, sondern in KZdeportiert. Im KZ Sachsenhausen starb Herbert Gürtzig laut Sterbeurkunde im Januar 1942 an Herz- und Kreislaufschwäche. Ebenfalls im KZ Sachsenhausen starb Herbert Schmeisser im Januar 1941 offiziell an Meningitis. Dies war ebenso wie Herz- und Kreislaufschwäche in der Sprache der Mörder eine der üblichen fingierten Todesursachen. Die Lebensläufe von Herbert Gürtzig und Herbert Schmeisser befinden sich im Anhang.
Auch an den Verlegungen der Steine für Rosa Weißbach im Wildganssteig 101 und für Jenny Hirschbruch vor dem Vereinshaus der Kolonie am See am Süderholmer Steig nahmen zahlreiche interessierte Bürger teil. Rosa Weißbach steht für die vielen Ehepartner in Ehen, in denen ein Partner jüdisch, der andere in der Sprache der Nationalsozialisten „arisch“ war. Rosa Weißbach war jüdischer Religion, ihr Ehemann Ernst religionslos. Den zunehmenden Repressionen gegen jüdische Menschen und den Anfeindungen in der Nachbarschaft nach 1933 hielt Rosa Weißbach nicht stand. Sie nahm sich am 3. Mai 1940 in der häuslichen Küche mit Gas das Leben. Von Jenny Hirschbruch wissen wir nur wenig. Fest steht, dass ihr letzter frei gewählter Wohnsitz ein Haus in der Kolonie am See war. Im Jahr 1855 in Küstrin geboren, war sie 86 Jahre alt, als sie 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Dort starb sie nach wenigen Wochen, offiziell an „Herzschwäche“, eine gängige Umschreibung für die elenden Umstände des Transports und des Lebens im KZ.
Vier Stolpersteine – vier Lebensläufe, die in einem demokratischen Staatswesen, das die Menschenrechte achtet, wohl ganz anders verlaufen wären und anders geendet hätten.
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